domingo, 14 de agosto de 2011

Interview mit Gabor Steingart "Der Fall Deutschland: Abstieg eines Superstars" Dossier Hartz IV Folha und Tropico (Brasilien)



José Galisi Filho - Das „Modell Deutschland“ wurde damals für eine nationale, industrialisierte Vollerwerbsgesellschaft mit hohem wirtschaftlichenWachstum entwickelt. Diese Gesellschaft gibt es nicht mehr. Nationale Preisaufschläge sind heutzutage auf Grund des internationalen Wettbewerbs ein Nachteil. Nationalökonomien haben aufgehört zu existieren. Dennoch versucht die deutsche Regierung das „(Auslauf)Modell Deutschland“ zu retten und nicht zu reformieren. Im Zentrum Ihres Plädoyers geben Sie viele Hinweise, daß Deutschland eher auf der Verliererseite steht und nicht mehr auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren scheint. Wie kann der Faktor Arbeit endlich von den „Fesseln“ der Sozialaufschläge befreit werden? Welche sind die Voraussetzungen, um den produktiven Kern dieser Wirtschaft zu wieder in Gang zu setzen?


Gabor Steingart - Die Arbeitskraft ist im Zuge der beschleunigten Globalisierung zur ganz normalen Handelsware geworden. Ihre Qualität und ihr Preis werden von den internationalen Investoren verglichen wie die von Rohöl, Eisenerz und Phosphaten. Deutschland, das seit Kriegsende seinen Sozialstaat über einen 40prozentigen Aufschlag auf Arbeit finanziert, hat damit ein Riesen-Problem. Dieser Sozialaufschlag wirkt wie eine Strafsteuer auf Arbeit und führt dazu, dass die einfache Industriearbeit das Land verläßt. Die Investoren kaufen sich einfache Industriearbeit in China, in Indien, in Osteuropa ein, was in meinem Land zu einer historisch einmalig hohen Arbeitslosigkeit führt. In vielen Regionen im Osten und im Westen Deutschlands ist ein Drittel der Erwerbsfähigen mittlerweile stillgelegt. Wir erleben im Innersten unserer Volkswirtschaft eine Kernschmelze. Seit Jahren verlieren wir pro Tag rund 1500 reguläre Vollzeit -Jobs - trotz der Reformpolitik der Regierung. Um diese für das Land verhängnisvolle Situation zu ändern, brauchen wir eine weitestgehende Befreiung der Arbeit von der Strafsteuer. Der Sozialstaat muß die Arbeiter in Ruhe lassen, damit die Arbeiter als Arbeiter und nicht als Arbeitslose weiterleben können. Wie andere Staaten auch, zum Beispiel alle Skandinavier, muß das Soziale künftig über reguläre Steuern finanziert werden. Das hat noch einen weiteren Vorteil: Alle sind gleichermaßen an der Sozialstaatsfinanzierung beteiligt, die Immobilienbesitzer, die Aktionäre, die Erben, die vermögenden Rentner. Das mag unpopulär klingen, aber es ist vernünftig. Jedes "Weiter-so" endet für Millionen von Jobs mit dem Aus.


José Galisi Filho - Sie beschreiben den rasanten Prozess der Externalisierung und Erosion des Wirtschaftskerns des Landes. Wie ist es langsam gelungen der Weltmeister in Export der Arbeitsplätze in der Welt zu werden? Warum haben die Deutschen, wie die Briten damals, nicht rechzeitig geschafft, diesen Gaueffekt zu erkennen? Könnten Sie für uns erklären diese statistische Fiktion und zwar, wie das berühmte Bruttoinlandsprodukt, das als Gradmesser für Erfolg sei in der Tat Schuldaufnahmen und Staatsaktivitäten als Positivfaktor mitzählt?

Gabor Steingart - Deutschland ist Vize-Exportweltmeister hinter den USA. Unser Erfolg in den Auslandsmärkten zeigt uns, dass Deutschland noch immer vital ist. Die Firmen sind erfindungsreich, vertriebsstark und wettbewerbsfähig. Aber der Preis für den Vize-Titel ist eben das ständige Aussteuren von menschlicher Arbeit. Der Importanteil an unseren Exporten hat sich in dem letzten Jahrzehnt fast verdoppelt, was nichts anderes bedeutet als das Ersetzen inländischer durch ausländische Arbeit. Unser Export-Erfolg ist ein Erfolg in Euro und Dollar, die Arbeitskräftebilanz ist weniger günstig. Unser Sozialprodukt, das eigentlich die Summe unserer ganzen Wirtschaftsaktionen abbilden sollte, gibt uns ebenfalls keine ehrliche Auskunft über die Lage in Deutschland. Die gesamten Staatsschulden werden zum Sozialprodukt dazu addiert, als handle es sich um eine Investitionssumme. Unsere Wachstumszahlen sind in Wahrheit rot. Das Wachstum ist aber in Wahrheit schuldengetrieben und wenn wir die Bankkredite wieder aus der Rechnung streichen sehen wir: Deutschlands echte Wirtschaft schrumpft.

José Galisi Filho - Die SPD warnt jetzt populistisch vor der "totalen Ökonomisierung". In einer hochregulierte Gesellschaften tut sich besonders schwer mit Anpassungsprozessen. Kann Politik überhaupt davor bewahren gegen die Entfaltung der Marktkräfte?

Gabor Steingart - Kluge Politik versucht, jene Prozesse, die derzeit im Westen zerstörerisch wirken, zu verlangsamen. Wir können kein Interesse daran haben, dass unsere industrielle Basis erodiert. Ohne Industrie gibt es auf Dauer keine Dienstleistungen. Politik muß den Faktor Arbeit endlich entlasten und die Steuern so gestalten, dass auch die Importe belastet werden. Die Umsatzsteuer ist ein Instrument, diese Umfinanzierung zu bewerkstelligen. Die müßten alle zahlen - auch die Produkte von Chinesen, Taiwanesen und Polen verteuern sich.

Teil zwei einer politischen Strategie lautet: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung müssten verdoppelt werden. Wenn die einfache Industriearbeit geht, muss die höherwertige Arbeit expandieren. Mit diesem doppelten Ansatz - mehr Luft zum Atmen am unteren Ende der Beschäftigungspyramide und neue Frischluft am oberen Ende - kann die Trendumkehr gelingen.


José Galisi Filho - Im Zentrum Ihres Arguments steht der strukturelle Fehler der Adenauer Rentereform 1957, eine Zeitbombe, die nicht den demographischen Kollaps des Landes einbezogen hatte. Können Sie uns erläutern, wie dieses System zum scheitern vorprogrammiert war?

Gabor Steingart - Adenauer hat seinen Generationenvertrag , der noch heute die Grundlage für unser Rentensystem bildet, nur zwischen der jetzigen Generation und ihren Eltern abgeschlossen. Die Kinder blieben Privatsache. Oder anders ausgedrückt: Die für das Überleben des Rentensystems wichtigste Frage, die der Nachkommen, die künftigen Arbeiter und Angestellten, der Beitragszahler von übermorgen, blieb unberücksichtigt. Diese Geringschätzung der Kinder ist zumindest einer der Gründe für die Überalterung der Gesellschaft. Seit meinem Geburtsjahrgang, 1962 bis heute, hat sich die Zahl der Kinder pro Jahrgang in Deutschland halbiert. Andenauers Rentensystem war ein Jahrhundertirrtum, der nun korrigiert gehört.

José Galisi Filho - Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz „Mittelmaß und Wahn“ 1988 beschrieb im positiven Sinne die Leistungen dieser Gesellschaft als „mittelmäßig“. Aber im Rückblick auf das „Experiment“ Hartz IV lässt sich eine Passage des Texts erneut lesen: „Millionen von Verlierern bleiben hinter den Anforderung dieses unerbittlerlichen Paradieses zurück. Die Rigidität, mit der sie ausgegrenzent werden, ist die Kehrseite der herrschenden Toleranz“. „Abnormale Normalität“ hieß damals. Die Opfer sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Wie steht Ihr eigener Begriff der „Leistung“ in diesem Zusammenhang? Was ist der Unterschied zwischen den Leistungsbringern und Leistungsbeziehern?

Gabor Steingart - Es gibt in Deutschland eine Ausgrenzung von Menschen, die nun gegen ihren Willen ein Leben ohne Arbeit führen. Ohne Arbeit und ohne Geld und oft auch ohne die mit beidem verbundene Sinnstiftung. Sie sind – gegen ihren Willen - Leistungsbezieher und nicht mehr das, was sie eigentlich sein wollten: Leistungserbringer. Dieser Sachverhalt ist gesellschaftpolitisch dramatisch und volkswirtschaftlich eine Katastrophe. Menschen, die von der Wohlstandsmehrung ausgeschlossen sind, wechselten von der Aktiv- auf die Passivseite der Bilanz. Teilhabe im umfassenden Sinn ist für diese Menschen nicht möglich. Die Gesellschaft hat ihre Leistung still gelegt. Dies ist ein Zustand, den wir ändern müssen, wenn sich die Dinge bessern sollen. Die "Abnormale Normalität" besteht darin, dass sich zu viele mit dieser Zweiteilung abgefunden haben und etliche sie sogar für eine Art Naturgesetz der Globalisierung halten. Diese Zweiteilung der Gesellschaft ist aber kein Naturgesetz, sie ist Ausdruck eines Staatsversagens. Das können wir leichter korrigieren als Naturgesetze und wir sollten es zügig tun.


José Galisi Filho - Trotzt der „moralischen Wende“ am Anfang der Achtziger wurde der Weg den Schuldenstaat fortgesetzt, aber dann kam die Wiedervereinigung und das Primat der Politik ließ ihm keine andere Wahl. Daraus entstand ein einmaliges Transfersystem in der Geschichte, und zwar der Aufbau Osten mit dem Abbau Westens In dreizehn Jahren Einheit fließen insgesamt 1.250 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer und die beiden Teilen jetzt erkennen sich wieder in ihrem Absturz. Verrät diese Konvergenz, wie Robert Kurz in seinem Buch „Der Kollaps der Modernisierung“ (1990) meint, mehr als der Kollaps des Sozialstaats als der Fanal des Zusammenbruchs des Systems selbst?

Gabor Steingart - So weit würde ich nicht gehen. Deutschland ist ein reiches Land, aber ein reiches Land im Abstieg. Die Übertragung unseres überlasteten Westsystems auf den Osten hat diesen Abstieg beschleunigt. Aber das ist für mich kein Grund zum Verzweifeln, sondern ein Grund zum Handeln. Eine politische Klasse, die alle Sinne beieinander hat, steuert um, möglichst bald, möglichst energisch.



José Galisi Filho - Wie bewerten Sie die These von Ulrich Beck über „die Brasilianisierung des Westens“?

Gabor Steingart - Beck meint die vielen fragilen Beschäftigungsverhältnisse, die Ich-AG's, die Scheinselbstständigen, die Menschen mit Werkverträgen. Dies alles hat zugenommen und das nicht nur zur Freude der Betroffenen. Aber ich würde es nicht diskreditieren wollen. Die Zeit des einen lebenslangen Jobs für alle ist vorbei und je eher wir uns damit arrangieren, desto erträglicher wird die Situation. Die alte Arbeitswelt wird aus unserem Leben verschwinden wie Postkutsche, Telegraph und Dampfeisenbahn.



José Galisi Filho - „Von den Visionen ist im Wesentlichen nur die Erregung zurückgeblieben, die sich nun gleichsam ziellos Wege der Energieabfuhr sucht“, schrieb einmal der Journalist Richard Herzinger in Bezug auf die rot-grüne Generation, deren postideologisches Projekt der radikalen Individualisierung die eigene Biographie als politische Botschaft und Spektakel sah. Welches Fazit ziehen Sie persönlich am Ende dieses Projekts?

Gabor Steingart - Der Wähler entscheidet, was bleibt und was kommt. Rot-grün war in vielen Politikfeldern besser als der Ruf, in der Verbraucherpolitik, beim Umweltschutz und auch in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde Deutschland im Großen und Ganzen ordentlich regiert. Diese Regierung hat ökonomisch versagt, das Wollen war hier deutlich größer als das Können, die handwerklichen Fehler haben die Regierung Schröder auf diesem Gebiet vom ersten Tag an begleitet. Und: Sie wurden nie wirklich abgestellt. Die entscheidende Bezugsgröße beim Beurteilen von Politik ist aber die Wirklichkeit: Wird sie richtig verstanden? Hat man es geschafft, sie zum Besseren zu verändern? Wie nachhaltig sind diese Verbesserungen? Gerade in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hat man versucht, die Wirklichkeit mit Parolen und Schlagworten zu beeindrucken, mit Agenda 2010, Job-Aktivgesetz und Job-Floater. Aber die Wirklichkeit ist unbestechlich und für Regierungspropaganda nicht empfänglich. Das wird auch eine denkbare neue Regierung schnell merken, die an diesen Problemen, über die wir hier reden, schon einmal gescheitert ist.

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