domingo, 30 de outubro de 2011

Dialektik des Fragments und Realismus in der Peripherie Heiner Müller und Oswald de Andrade


By stressing the idea of fragment or disruptive procedures rooted in the classical European avant-gardes, most scholarship regards it as self-evident that Müller's approach to tradition always retains its negativity. This seems often to enclose his achievements in the same aporias that once determined the failure of these movements. Nevertheless, in regard to a peripheral (i.e. non-European) context, Heiner Mueller pointed in 1979 to a "social realism" whose roots seem to lie beyond the historical European avant-garde. If the antipode figure in Der Auftrag indicates a vertical movement inside the work towards a formal alterity, one should also draw a line back to the different meanings for realism and avant-garde in two different moments of classical modernism. Heiner Muller knew in São Paulo the director Jose Celso Martinez Correa, whose theatre revolutionised the Brazilian scene in the 1960s in the name of "Anthropophagy", a programmatic insight established by the Brazilian playwriter and poet Oswald de Andrade in the 1920s.

I. Realismus als Antipode

Ich kann die Frage des Postmodernismus aus der Politik nicht heraushalten. Periodisierung ist Kolonialpolitik, solange Geschichte nicht Universalgeschichte ist, was Chancengleichheit zur Voraussetzung hat, sondern Herrschaft von Eliten durch Geld oder Macht. Vielleicht kommt in andern Kulturen anders wieder, bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne, was in den von Europa geprägten dem Modernismus voraufging: ein sozialer Realismus, der die Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit schließen hilft, die Kunst ohne Anstrengung, mit der Menschheit auf Du, von der Leverkühn träumt, bevor ihn der Teufel holt, eine neue Magie, heilend den Riß zwischen Mensch und Natur. Die Literatur Lateinamerikas könnte für diese Hoffnung stehn. Die Hoffnung garantiert für nichts: die Literatur der Arlt, Cortazar, Marques, Neruda, Onetti ist kein Plädoyer für die Zustände auf ihrem Kontinent.(1)

In der Mitte der Wüste Nevada befindet sich eine riesige Skulptur von Michael Heizer: "Komplex 1" lautet rätselhaft der Name. Kein Museum der Welt könnte sie ausstellen im Sinne von Gehalt und Form. Sie ist eine Rampe, die ins Nichts springt oder vielleicht darauf hinweist. Wer sich die Mühe macht hinzugehen, gibt schon sein Einverständnis und wiederholt einen asketischen Gestus des Aufgebens. In der Grenze von Landschaft und menschlichem Produkt erinnert sie uns an eine gefrorene Energie, die auch mit Müdigkeit und Schweigen verwandt ist. Die Skulptur als Gestus verkörpert ein 'Fundamemt', elementar wie der Boden und seine Kräfte. Ihre Haltung ist ein lyrischer Fundamentalismus, eine Figur der avantgardistischen Orthodoxie in ihrer Reinheit.
Als Heiner Müller den Begriff eines "sozialen Realismus" in seiner Rede in New York 1979 erwähnt hat, war Der Auftrag fast schon fertig. Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten besuchte er auch Mexiko, Bühne der antifaschistischen Intelligenz und von Anna Seghers' Erzählung Das Licht auf dem Galgen. Wenn die Erhabenheit der Landschaft seit diesem Zeitpunkt eine zunehmende Rolle in seiner Reflektionsweise gewinnt, muß man auch das Gefühl der volligen UnWirklichkeit bemerken, welches ihre Größe im Subjekt bestimmt. In Amerika z.B. erzeugen riesige Plakate einer 'fremden Zivilisation' der Waren, die den gespenstischen 'Antipoden' in Der Auftrag begleiten, mehr Wirklichkeit oder Konsistenz als das betrachtende Subjekt der Landschaft. Andererseits haben solche Plakate in einer verwüsteten Landschaft wie Mexiko oder in Vorstädten und Slums Brasiliens eine ironische Wirkung, nicht weil sie eine unmögliche Lebensweise versprechen, an die niemand glaubt, sondern im Gegenteil gerade, weil sie sich gut in diese Landschaft eingepaßt haben. Als 'Avantgarde des Wohlstands' dienen sie sogar in den Slums als Häuser und Schutz gegen das Vetter. Müller war diese Umkehrung der Sinnlichkeit und Funktionalität nicht fremd, die er als Mangel von Geschichtlichkeit in dem Stück übersetzt, ein Gefühl, daß etwas für immer verloren sei, eine Art von 'fading'-Effekt, die die ganze Struktur des Texts als "auflösende Bewegung" auf der thematischen Ebene (2) bestimmt. Der Untergang dieses Paradigmas der Revolution, ein Zenit im Himmel der Geschichte, löst sich in das Erhabene zwischen Natur und Diskurs.
Doch das Wort Realismus ist ganz eindeutig and und knüpft an die große europäische Tradition, der Linie Balzac, Stendhal und Flaubert an. Müller fügt ein Adjektiv hin zu, "sozialer Realismus", in einem peripheren Kontext, in dem der Ästhetizismus und die Reinheit der Form der orthodoxen Avantgarden nicht zueinander zu passen scheinen. Der Widerspruch zwischen diesem Begriff und der "synthetischen Herstellung eines Fragments" scheint aber ganz klar und wurde bis jetzt in der Kritik nicht als Problem erkannt. Der klassische bürgerliche Realismus, dessen Zyklus die historischen Avantgarden schließen, taucht in einem neuen peripheren Kontext wieder auf, aber "bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne".
Vor allem ist der Antipode ("Mann im Fahrstuhl") in Der Auftrag der Träger einer Transitivität der Zeichen und Sinne in eine horizontale Richtung, die sich als intensive/vertikale Zeit übersetzt. Am Anfang dieses Jahrhunderts hat eine ganze Kette von literarischen Explosionen die Öffentlichkeit aller peripheren Länder erschüttert. Dieser Prozeß erweist sich in diesem Augenblick als eine qualitative Veränderung des Zeitbegriffs der literarischen Übertragung. Für die intellektuelle Elite der Dritten Welt erscheinen zunächst die Zeichen der industriellen Modernität als utopische maschinelle Bilder, deren geistige Energie immer noch ein mimetisches Potential der revolutionären sozialen Veränderung enthält. Links oder rechts verkörpern die ersten Maschinen das Zeitalter der Elektrizität oder der Dampf eine Form der geistigen totemistischen Energie, dessen irrationales Potential die faschistische Modernität sehr schnell auch nutzen würde. Aber diese reine 'Simultaneität' der Moderne als 'Avantgarde' ist scheinbar, wie auch der Antipode in Der Auftrag zeigt. Im Zentrum seines Spaziergangs steht eine Dampfmaschine auf einem abgebrochenen Gleis als ein metaphysisches Zeichen wie aus einem Gemälde von di Chirico, eine ortlose Idee ohne "Funktionalität".
Wenn wir Heiner Müller ernsthaft für einen 'Dialektiker' halten, müssen wir die dringliche Frage der 'Funktionalität' beantworten. Der Endpunkt des Spaziergangs des "Mann im Fahrstuhl" in Der Auftrag bleibt in dieser lyrischen Dampfmaschine noch 'metaphysisch'. Ihre Erscheinung ist ein 'Rest' einer 'bestimmten' Geschichte. Der Kampf des Mannes im Fahrstuhl gegen die physische Schwerkraft der Bewegung befreit seine Wörter von einem letzten 'Gewicht'. Debuisson kämpft, wie Hölderlin, um diesen Himmel der reinen Schönheit jenseits der Grenzen der historischen Erfahrung. Aber die Geschichte geht weiter als Immanenz. Es handelt sich im Gegensatz dazu um den "Lange[n] Marsch durch die Höllen der Aufklärung" (3), um mit Müller selbst zu sprechen. Im logischen Sinne existiert überhaupt kein Rest als 'caput mortum', der 'weggedacht' werden könnte, außer als eine scheinbare und gespenstische Bewegung ohne Objekt, die als tautologische Identität wiederkehrt. Die kantianische kopernikanische Revolution befreit das Denken von jener scheinbaren sinnlichen Darstell-barkeit der Figuren des Diskurses, deren Schwerkraft damals das schöne Jenseits der Metaphysik kolonisiert hat. Die sinnliche Erfahrung verliert alle Bedeutung und muß mit den leeren Kategorien des Verstandes - die in unserer sinnlichen Erfahrung keine Bedeutung haben - buchstabiert werden. Das Denken als Abenteuer ist das ortlose Zentrum, dessen Aufgabe notwendigerweise die Grenzen der Erfahrung überschreitet (4).
Wir müssen uns von jeglicher Metaphysik in bezug auf Heiner Müller für immer verabschieden. Der Antipode in Der Auftrag ist vielleicht die Wiederkunft dieser scheinbaren Bewegung, ein Epizentrum der Nicht-Identität, die keine 'Differenz', 'Hoffnung' oder 'exotischen Rest' bestimmt, sondern sie weist radikal auf unsere Immanenz als denkendes Subjekt in der Geschichte.

II. 'Deplazierte Ideen': eine ideologische Komödie

Die Hauptfrage lautet: Wie artikulieren sich die Ideen im Kontext der Peripherie mit dem internationalen System der Arbeitsteilung, wie kann man ihre Rolle in einem peripherren Kontext dialektisch artikulieren? Dies bedeutet einen völlig anderen Sinn für das historische Bewußtsein und für die Verarbeitung der Vergangenheit. In Brasilien z.B. entstand der Staat vor der Nation. Die kulturelle Eiznheit des Landes ist nur ein spätes Produkt.
Aus dieser trivialen Beobachtung lassen sich mehrere Implikationen ableiten. Diese willkürliche nationale Identität kann überhaupt nicht auf der gleichen Bahn wie die ökonomischen Beziehungen laufen. Die transplantierten europäischen Ideen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts bestimmen einen nachahmenden und artifiziellen Charakter des ideologischen Lebens. Dies wurde nach der politischen Unabhängigkeit des Landes einer der Gemeinplätze der brasilianischen Kritik. In jedem Augenblick der brasilianischen Geschichte war es immer ein intellektuelles Problem, eine Aufgabe und auch eine fragwürdige Voraussetzung, Ideologien und Theorien zu diskutieren, deren Grundlagen nicht im Land entstanden sind. Getrennt von ihrem europäischen Boden gewinnen diese Ideologien eine völlig andere Funktionalität.
In dem brasilianischen Kontext der Sklaverei des letzten Jahrhunderts erschien der liberale Diskurs absurd und überflüssig. Was in Europa der Sauerstoff für die Entwicklung der Gattung Roman war, taucht in unserer Romantik wie ein 'absurdes Theater' wieder auf. Dieser Umstand sollte einen völlig neuen Begriff des Realismus bestimmen. Realistischer könnten die Romane Flauberts oder Balzacs in diesem Kontext nicht sein. Der Reichtum der Warenwelt, der den Texten Balzacs oder Flauberts unterliegt, hatte keine Entsprechung in der brasilianischen Elite. Es fehlten die Wörter, um die liberalen Beziehungen zwischen autonomen Subjekten zu übersetzen. Angesichts dieses Mangels war die gewaltige Bewegung der bürgerlichen Welt in ihrem Gipfel eine phantastische Fiktion. Die Ausübung der Gewalt bedurfte keiner ideologischen Rechtfertigung.
Doch als Muster unserer Literatur wäre diese bewegende Wirklichkeit (und deren Ideologien) nur realistisch, wenn sie umgekehrt werden würde, wenn ihre Absurdität in unserem Kontext buchstäblich als ein Anachronismus übersetzt würde und nicht idealisiert, dann hätten wir unseren Realismus gefunden, nicht als 'Rest', sondern als Modernität. Der Romanschreiber Machado de Assis (1853-1908) - unser größter Klassiker - hat diese ursprüngliche strukturelle Inkompatibilität in seine Romane eingeschrieben. Erst ein Jahrhundert später würde er seine klassische Interpretation durch den Kritiker Roberto Schwarz, der 1938 in Wien geboren wurde, finden (5).
Mit dem Begriff der Ideologie 'zweiter Hand' versucht Roberto Schwarz die 'Unwirklichkeiten' von Kultur in ihren komischen, lächerlichen oder tragischen Aspekten als formales Problem zu entwickeln. Unter dem Einfluß von Benjamin und Adorno begreift Schwarz Kulturkritik immer unter den Vorzeichen der strukturellen Inkonsistenz und Fragmentarisierung unseres kulturellen Lebens. Er charakterisiert die vorherrschende liberale Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts in einem Land, dessen Ökonomie auf Sklaverei basiere, oder den Flower-Power-Optimismus der sechziger Jahre in Brasilien, einem Land unter einem Militärregime, wo die spätavantgardistischen Bewegungen und Positionen den Aufstieg der Medien legitimierten, in einer nicht zufälligen Konvergenz zwischen Reaktion und Fortschritt. Dieses Muster von Kulturkritik bestimmt das konkrete Erscheinungsbild seiner Deutung:

Vom liberalen Standpunkt aus war die Sklaverei - Basis der brasilianischen Wirtschaft - eine Schande, außerdem eine Rückschrittlichkeit. Vom Standpunkt der Sklavenhalter war die liberale Lehre ausländisch, antiökonomisch und abscheulich. Aber diese Position hatte den Geist des Jahrhunderts gegen sich, und ein Dichter hätte nur schwerlich die Knechtschaft preisen können, und sei es aus Nationalismus und gegen das heuchlerische England gerichtet, das uns den Handel mit den Afrikanern verbieten wollte. Das verhinderte allerdings auch nicht, daß dieser Handel ebenso wie die Institution der Sklaverei ausführlich und beharrlich verteidigt wurde [...]. Um die Verwirrung vollständig zu machen, erinnere man sich daran, daß der Sklaven haltende Großgrundbesitz bereits in seinen Ursprüngen im kolonialen 17. Jahrhundert ein Unternehmen des Handelskapitals war und daß der Gewinn schon deshalb immer seine Hauptanliegen bildete. Nun ist der Gewinn als subjektive Priorität den alten Formen des Kapitals aber ebenso zu eigen wie den allermodernsten. Also waren unsere ungebildeten und abscheulichen Sklavenhalter bis zu einer bestimmten Epoche - als diese Produktionsform unrentabler wurde als die Lohnarbeit - im Grunde viel konsequentere Kapitalisten als unsere Verteidiger von Adam Smith, die im Kapitalismus vor allem die Freiheit sahen. Man sieht schließlich, wie das Mißverständnis bereits im intellektuellen Leben existierte.
Hinsichtlich der Rationalität vermischten und verkehrten sich die Rollen auf ganz normale Weise: Die liberale Wirtschaftswissenschaft, deren Basis die freie Arbeit ist, wurde im Land nicht angewendet und roch nach Phantasie und Moralismus; der Obskurantismus hieß Verantwortung und Nationalismus; der Altruismus tendierte zur Implantation des Mehrwerts usw.
Mit anderen Worten war der Liberalismus in Brasilien Element einer ideologischen Komödie, die sich von der europäischen unterschied. Es trifft zu, daß die Freiheit der Arbeit, Gleichheit vor dem Gesetz und der Universalismus auch in Europa als Ideologie vorherrschten; dort stimmten sie mit dem Erscheinungsbild überein, da sie Wesentliches verhehlten: die Ausbeutung der Arbeitskraft. Bei uns waren dieselben Ideen in einem anderen, fast ursprünglichen Sinn falsch
. (6)

Mit einer stets sich wiederholenden kafkaesken Metapher in Schwarz' Prosa: wie lautet die Stunde der Aufklärung in diesem geistigen und sozialen Kontext? Sie kann nur in der Vermittlung zwischen einer internationalen Stunde des Kapitals und ihrer gleichzeitigen Wirkung in der Peripherie bezeichnet werden. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts vor der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit war von der künstlerischen Kopie nicht die Rede. Gerade durch die kapitalistische Vernetzung des Weltmarkts taucht in dem Bewußtsein der peripheren Eliten das Unbehagen eines imitativen kulturellen Lebens als Nebenwirkung ihrer Teilnahme an der neuen Weltordnung auf.
Diese Wirkung aber ist scheinhaft und getrennt von der lokalen sozialen Wirklichkeit, wo sie verwurzelt ist; die Idee von der Kopie ist so begrenzt auf das Bewußtsein einer winzigen Elite, aber trotzdem verallgemeinert sie sich als eine willkürliche nationale Identität, ein vorläufiges Konstrukt oder eine inkompatible Collage, die nur in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch die internationalen Zusammenhänge durchsichtig in beide Richtungen wird. Die schnelle Polarisierung der kommerziellen Routen entspricht auch einer zunehmenden Abhängig-keit der peripheren Länder von der Beschleunigung der Strömungen der europäischen Kunst bis zu den Avantgarden. Bei dem Versuch, die Stunde der Modernisierung zu etablieren, vertieft sich im Bewußtsein der Eliten die Kluft zwischen diesem ursprünglichen Unbehagen und dem Bedürfnis, es in einem neuen Kontext zu säkularisieren.
Diese Problematik betrifft direkt Müllers Begriff des Realismus in der Peripherie, im Augenblick der Erschöpfung der historischen Avantgarden. Dieser "soziale Realismus" wäre keine Parodie oder Nachahmung europäischer Haltungen, sondern ein wirklicher Augenblick der Bewegung des Kapitals am Rande des Systems. Dies ist keine folgenlose Beobachtung, sondern eine logische innere Entwicklung der Verbreitung des europäischen Modernismus in allen Kontinenten, dessen Internationalisierung eine komplexe Einheit und ein Selbstbewußtsein der Moderne geschaffen hat, die den ehemaligen klassischen Begriff des bürgerlichen Realismus erweitert. Dieser "Realismus" überlebt die Avantgarde und gewinnt eine neue Konsistenz.
Was aber in Europa eine historische Konvergenz zwischen Fortschritt, Avantgarde und Reaktion war, könnte nur dann als Einheit der Moderne selbst verstanden werden, wenn man die Dialektik des Fragments und der modernen Collage in der Peripherie im gleichen Augenblick der avantgardistischen Entwicklung betrachten würde. Anders gesagt: Was in Europa sich als kritische Reduktion gegen die etablierte 'Institution' Kunst erweist, erscheint schon in der Peripherie des Kapitals als mimetische Übersetzung:
- im Selbstbewußtsein und Unbehagen der Eliten gegenüber einer Wirklichkeit, in der ihre aus Europa transplantierten Ideen nicht 'passen', was eine strukturelle Inkonsistenz der Collage bedeutet, deren Wirkung für die Majorität der Bevölkerung keine Bedeutung hat;
in der Landschaft, die sich so als surrealistische 'Collage' an sich und als gegebenes Nebeneinander von Altem und Modernem erweist. Der brasilianische Kritiker Antonio Cândido (7) hat dieses Paradoxon auf folgende Weise formuliert:

Schließlich darf man nicht die Rolle vergessen, welche die primitive Kunst, die Folklore und die aufblühende Wissenschaft der Völkerkunde bei der Definierung modemer ästhetischer Richtungen spielten. Wurde doch dadurch die Aufmerksamkeit auf alte volkstümliche Elemente gelenkt, über welche der Akademismus hinweggesehen hatte. Und in Brasilien sind ja die primitiven Kulturen noch im täglichen Leben nachweisbar oder doch noch lebendige Erinnerungen aus jüngster Vergangenheit. Die schrecklichen Kühnheiten eines Picasso, eines Brancusi, Max Jacob, Tristan Tnara standen im Grunde in engerem Zusammenhang «mit diesem Teil unseres kulturellen Erbes als mit ihrer eigenen kulturellen Tradition. Die Vertrautheit mit dem Neger-Fetischismus und allerlei afrikanischen Gebräuchen sowie mit der folkzloristischen Poesie machte uns aufnahmefähig für künstlerische Prozesse, die in Europa einen tiefgehenden Bruch mit dem gesellschaftlichen Milieu und den geistigen Traditionen bedeuteten. Unsere Modernisten erhielten also sehr schnell Fühlung mit den neuesten Richtungen europäischer Kunst, lernten die Psychoanalyse und formten so einen Typ, der zugleich lokale und universelle Ideen ausdrückte, ja den europäischen Bewegungen bei einem Versenken in Einzelheiten des brasilianischen Lebens wieder begegnete. Es beeindruckt tief, wenn man z.B. die Übereinstimmung erkennt, die zwischen einem Apollinaire und einem Cocteau einerseits und einem Oswald de Andrade andererseits besteht. (8)

Cândidos Thesen über den brasilianischen Modernismus (9) könnten auf folgende Weise zusammengepaßt werden:
- Der auflösende Impetus der avantgardistischen Strömungen in ihrer uniformen endgültigen historisehen Einheit als der Zyklus des französischen Surrealismus entspricht schon in der Peripherie des Kapitals dem Zustand der Landschaft einer nachholenden Modernisierung, wo verschiedene Zeitebenen sich vermischen. Schon das Unbehagen eines imitativen kulturellen Lebens verrät dessen vorläufigen Charakter als Konstrukt. Eine Collage von André Breton oder Tzara ist die Verweigerung einer etablierten Norm in der 'Instituition' Kunst, und zwar die Aufhebung dieser normativen Institution in Lebenspraxis. Für einen brasilianischen Künstler würde die gleiche Collage nicht das Ergebnis eines intellektuellen Prozesses bedeuten, sondem zeigt sich als Nebeneinander zwischen Altem und Neuem, eine stilistische Vermischung zwischen, kolonialen Zügen und einem nachholenden Modernisierungsprozeß. Das Hauptprogramm der europäischen Avantgarden, die Befreiung von der Wirklichkeit der komplizierten, überflüssigen und scheinbaren Züge der bürgerlichen Welt, wie es sich z.B. in Brechts Ideal eines plumpen Denkens oder 'basic English', in Lenins Satz, daß der sozialistische Staat von einer Köchin zu führen sein müsse oder im surrealistischen Traum 'Paroles en Liberté', der Überführung der Dichtung in die Wirklichkeit ausdrückt, war schon scheinbare Wirklichkeit in der Peripherie. Das Fragmentarische im konstruktiven Augenblick eines Kunstwerks zeigt sich realistisch und ziemlich einfach zu erreichen als 'Parataxis', anders gesagt, das mimetische Moment ist dominant in dieser Konstruktion.
- Der zentrale Begriff des europäischen Modernismus, die Montage, wird mit einer historischen Ironie wie in Adornos Ästhetik "extraterritorial" (10), die Montage wird wieder mimetisch in dieser neuen Wirklichkeit. Diese Passage signalisiert einen Spannungsverlust der Werke, der in der Tat einer objektiven Entwicklungstendenz der modernen Kunst nicht nur im Raum, auch in der Zeit entspricht. Die modernistische Bewegung in Lateinamerika bewirkt zum ersten Mal einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der europäischen Kunst, z.B. in der Auseinandersetzung mit dem 'Primitiven'. Der Anschein der Natur aber entspricht für europäische Augen einem 'Rest', eine Landschaft am Rande der Industrialisierungsprozesse, d.h. ein romantisches Gespenst, das wieder im Zentrum des Systems als Kitsch für die Phantasie erscheint.
- Dieser Rest aber ist nicht eine 'exotische Differenz', eine 'Spiegelung' des Gleichen, ein romantischer 'Antipode' usw., der Rest ist nicht ein Subprodukt der Zivilisation, sondern selbst die Strategie der Integration der peripheren Eliten in den Weltmarkt (Sklaverei, Kaffee, oder heute Drogen, Waffen, Sex und Verbrechen). Ohne diesen 'Rest' ist es unmöglich, die Totalisierungsbewegung der modernen Kunst zu verstehen.
- Endlich erscheint der Begriff Realismus in einer umgekehrten Konstellation in der Peripherie. Getrennt von ihrem historischen Boden gewinnen diese europäischen Ideen eine entscheidend andere Funktionalität.

III. Oswald de Andrade: Anthropophagie als "ontologischer Nationalismus"

Malachites
Les amis sont arrivés avec des figures allègres
Ils venaient du chemin de la montagne
Le chemin par où l'on apporte le bois de la montagne.
Il y a un petit noble de l'almanach Gotha
Qui est nègre,
Un écrivain, un fonctionnaire et un danseur de l'Opéra
Ils se sont reflétés dans mes miroirs
Ils ont délibéré sur la maladie du danseur
Et lui ont conseillé le camphre et le phosphore.
Tous les six excepté le nègre
Nous avons mangé des cadavres
Avec du sel avec du poivre
Avec de l'huile et du vinaigre.
Le nègre ne mange que des fleurs cuites
Et les arrose d'eau bénite
Dans des bols.
Sous la vérandah de sable
De sable jaune et de cuscutes,
L'écrivain a joué de la flûte
Et il a évoqué le diable.
(12)

Auf dem Höhepunkt der avantgardistischen Bewegungen in Europa plädiert der brasilianische Dichter und Dramaturg Oswald de Andrade (1893-1954) (13) für einen "ontologischen" Nationalismus durch die buchstäbliche "Einverleibung des Anderen". In seinem Anthropophagischen Manifest (14) von 1928 zeigt sich dieser radikale Impuls als eine unmögliche Identität von zwei Welten:

Tupi or not Tupi, that is the question. Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch. Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck Aller Individualismen. Aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.(15)

Tupi war die ursprüngliche Sprache der Indianer der brasilianischen Küste, aber Oswald de Andrade formuliert ironischerweise das Paradoxon auf Englisch. Die Anthropophagie ist das Programm einer freien, klassenlosen, an matriarchalischen Urzeiten orientierten Gesellschaft. Es sei möglich, das technologische Paradies auf der Erde zu schaffen, eine technische Zivilisation ohne Krieg, "bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne":

Wir wollen die Karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Verneinungen aller wirklichen Revolten, die zum Menschen führen. Ohne uns hätte Europa nicht einmal seine armselige Erklärung der Menschenrechte. Das von Amerika angekündigte Zeitalter. Das goldene Zeitalter. Wir hatten bereits den Kommunismus. Wir hatten bereits die surrealistische Sprache. Das goldene Zeitalter. (16)

Jenseits der Sünde:

Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unterdrückend, von Freud klassifiziert, ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostituierenden und ohne Strafanstalten, im Matriarchat von Pindorama. Wir haben alle katholischen, argwöhnischen» in Dramen versetzten Ehemänner satt. Freud hat Schluß gemacht mit denn Rätsel Frau und mit anderen Schrecknissen der gedruckten Psychologie. (17)

Der Modernismo Brasiliens erkor insbesondere das Primitive zum Thema; eir versuchte, Nutzen zu ziehen aus den tellurischen Dimensionen des riesigen und jungen Landes, das für den Drang nach Emanzipation vom klassisch-abendländischem Vermächtnis, von dem schon die gesamte europäische Moderne geprägt worden war, ein großartiges Reservoir an Symbolen und Bildern darstellte. Für die brasilianische Kritik seit je schlägt schließlich die Stunde, diese paradiesischen Bilder auf dem Boden der Geschichte zu säkularisieren.
Nicht nur in Brasilien aber taucht diese Metapher als Ikone der Modernität auf. Was für die Europäer der Alptraum schlechthin gewesen ist, steht nun für das Zeichen des modernen Kriegs des Materials, wo der Mensch nur ein Punkt in der Landschaft ist. Apollinaire feiert die Menschenfresserei Verduns als "Festin du Baltasar canibal". Anthropophagisch scheint auch der schnelle Metabolismus der Zeichein in den neuen Metropolen Paris und Berlin, wo die Subjektivität in der Hochzeit mit den Maschinen sich in der Landschaft auflöst. Dadaisten und Surrealisten feiern die neue Barbarei. Für den Dichter Max Jacob fressen die weißen Männer ihren Genossen mit 'Etikette', beobachtet von einem Neger, der mit christlicher Liturgie den Teufel beschwört. Nicht zu vergessen, daß bei Müller selbst Stalingrad das kannibalistische und totemistische Feiern der deutschen Geschichte ist.
Wie jede mythisch-utopische Vorstellung von Geschichte, wie das 'ewige Preußen' bei Müller, welches die Welt in der Tat schon in ein Gefängnis verwandelt hat, weist die Anthropophagie Oswald de Andrades einen Mangel im doppelten Sinne auf: Als negatives Zeichen von dem, was im europäischen Denken als mythische Vorstellung erscheint, kritisiert sie das, von dem sie sich entfernt. Die Idee Brasiliens taucht erst in der Morgenröte der Moderne in paradiesischen Bildern auf, die sich schnell in eine höllische Vorstellung der neuen Natur und des neuen Menschen verwandeln. Die Säkularisierung dieser Bilder war die erste Aufgabe der ursprünglichen kulturellen Entwicklung des Landes. Montaigne hat ein klassisches Kapitel seiner Essays über die brasilianischen 'Kannibalen' (Guaranis) geschrieben, die 1562 den Hof Karls IX. besucht haben. Erst im Jahrhundert der Aufklärung entstand unter dem Einfluß der Naturverherrlichung Rousseaus der Mythos vom 'edlen Wilden'.18 Die Idealisierung der Naturvölker und der außereuropäischen Hochkulturen wird unter einer moralischen Perspektive bewertet, von denen sich der weiße Mann eine Scheibe abschneiden könne. Deswegen entwickelt sich eine merkwürdige umgekehrte europäische Ideologie, in der die Unterjochten und Gequälten plötzlich als die besseren Menschen gelten, gerade weil sie unterentwickelt waren. Und je weiter man sich vom kolonialen Zeitalter distanziert, je stummer die ungezählten Opfer der Vergangenheit werden, desto mehr scheint sich diese Indianer-Romantik im europäischen Bewußtsein auszubreiten.
Bei Oswald de Andrade taucht diese umgekehrte Vorstellung wieder invertiert auf. Gegen eine weberianische Ethik der Arbeit und Zweckrationalität setzt er eine positive Bewertung der Faulheit unter der Sonne (immer im Zenit) in der Welt 'Pindorama'.(19) Das Verschwinden der Arbeit als historische und analytische Kategorie schafft eine ewige Gegenwart, wo es keine Distanz mehr zwischen den Zeichen und den Sachen selbst gibt:

Kinder der Sonne, Mutter der Lebenden. Vorgefunden und grausam geliebt von den Eingewanderten, den Eingeschleppten und den Touristen, mit der ganzen Heuchelei von Sehnsucht. Im Land der großen Schlange. Im Matriarchat von Pindorama. Gegen die Erinnerung, Quelle der GewolLnheit. Die erneuerte persönliche Erfahrung. Wir sind Konkretisten. Die Ideen geben Obacht, reagieren, verbrennen Menschen auf öffentlichen Plätzen. Laßt uns die Ideen und andere Lähmungen abschaffen. Für die Richtungen. An Zeichen glauben, an die Instrumente und an die Stenme glauben. Gegen Goethe. (20)

Die Anthropophagie erweist sich als eine positive Haltung gegenüber den Ruinen der europäischen Zivilisation: es ging darum, auszubeuten und zu verdauen, was schon zerstört war nach der 'Menschenfresserei' in Verdun. Die programmatische kannibalistische Metapher war gleichzeitig Zeichen der- Feindlichkeit gegen die kulturelle Kolonisation und der Wunsch, alle ihre Güter auszubeuten, d.h. ohne den Preis eines totalen Krieges zu bezahlen: Sie ist kritisch und naiv, euphorisch, aber auch ein Zeichen unserer intellektuellen Inkonsistenz und Unfähigkeit, ein organisches kulturelles Lebens zu erreichen.(21)

Oswald de Andrade ist ohne Zweifel die emblematischste Figur des brasilianischen Modernismus und verkörpert wie sonst niemand die Idee eines radikalen Sprungs in die Arena der Moderne. Das Wort Arena erinnert bei ihm an einen der größten Einflüsse auf seine Dramaturgie: Der Zirkus als vorbürgerliche Erscheinungsform des institutionalisierten Theaters und Versprechen einer nachbürgerlichen Erfahrung in der Kommune (Der Mann und die Pferde). Andrade hat seine einzigen drei Stücke in den Dreißigern, im Kontext der Krise von 1929, in der Erwartung einer kommunistischen Weltrevolution geschrieben. Doch sie wurden erst in den sechziger Jahren wiederentdeckt durch die klassische Inszenierung von Der König der Kerzen durch José Celso Martinez Correa.
In dem dreiaktigen Stück, das 1934 entstand, zeigt Oswald de Andrade mit grotesken Elementen diesen neuen Zusammenhang zwischen dem Bürgertum und der Landaristokratie des Staates Sâo Paulo, wo beide Klassen in Gestalt ihrer Vertreter, des Wucherers und Industriellen Abelardo I (König der Kerzenindustrie) und der agrarisch-feudalen Heloisa de Lesbos, Angehörige der Kaffeearistokratie, sich vermischen. Abelardo wird Heloisa heiraten, um damit als neuer Besitzer des Landes gekrönt zu werden. Die desublimierte Gestaltung der Charaktere erinnert ganz deutlich an das psychologische Mißtrauen eines Brecht, aber Andrade unterlag keinem direkten Einfluß der epischen Dramaturgie. Aber wenn es sich um das Bürgertum handelt, verbindet Andrades Schematismus notwendigerweise freudianische Perversionen der Klasse mit dem Bedürfnis, das Publikum in seiner entfremdeten Lage zu provozieren. Die Kerze ist ein phallisches Symbol. Abelardo I wird von Abelardo II (seinem Doppelgänger und Nachfolger) verraten, aber am Ende bleibt Heloise bei dem Amerikaner Mr. Jones, einer krassen Metapher des Imperialismus, der bis jetzt die Handlung aus der Ferne beobachtet hatte. Mit der Krise von 1929 beginnt auch die politische und finanzielle Hegemonie der USA über Brasilien.
In seiner Inszenierung von 1967 radikalisierte der Regisseur José Celso Martinez Correa die Montage von heterogenen Stilen, die im Text angelegt sind: Zerstörung der Bühnenillusion, Verwendung extrem theatralischer Schockwirkungen an der Grenze zum Kitsch. Die Kannibalisierung der Geschichte war auch ein Exorzismus des Theaters durch die exzessive Betonung sexueller Elemente. Unter dem Zeichen des anthropophagischen Manifests, verwandelt sich die Inszenierung in eine Synthese der 68er Generationserfahrung, deren Haltung gegenüber den neuen Medien positiv war.

IV. Eine Debatte

Heiner Müller hat den Regisseur José Celso bei seinem Besuch in São Paulo persönlich kennengelernt. Zuerst sah Müller eine Aufführung der Hamletmaschine des Regisseurs Márcio Aurélio mit der Schauspielerin und Tänzerin Marilena Ansaldi, ein Star auf Brasiliens Bühne, die alle IRollen als 'Performance' in einer Art elektronischier Arena spielte, wo ihr Bild sich in alle Richtungen spiegelte. Müller war sehr beeindruckt von der Performance, einer expressiven Übung im radikalen Gegensatz zu Bob Wilsons kühnem minimalistischen Stil. Anwesend war auch der Regisseur Gerald Thomas, der Quartett zwei Jahre zuvor in Rio de Janeiro inszeniert hatte und während dieser Spielzeit gerade eine 'Trilogie' mit Texten von Kafka vorbereitete.
José Celso war überhaupt nicht an Heiner Müller interessiert und nutzte che Gelegenheit, die neuen Regisseure anzugreifen, die die neuen deutschen Dramen (Botho Strauß, Franz Xaver Kroetz) oder sogar deutsche Klassiker, getrennt von unserer national geprägten, rituellen Körperlichkeit, d. h. der religiösen Vermischungen von Katholizismus und Negerritualen unter dem Zeichnen des Matriarchats, inszenieren. Brechts Erbe sollte ausgeklammert wer-den nach José Celso, weil es als System und Voraussetzung der Moderne tiefe Wurzeln in BrasiLien während der letzten Jahrzehnte geschlagen hatte. Brecht war bereits von ihm in zwei nachhaltig wirksamen Aufführungen von Leben des Galilei und Im Dickicht der Städte kannibalisiert worden.
José Celso, im Augenblick selbst mehr den 'Baal' spielend, war schon irmmer ein Gegner anderer emigrierter deutscher Intellektueller wie Roberto Schwarz oder des Berliner Kritikers Anatol Rosenfeld, die er 'deutsche Professoren' nannte, deren transplantierter dialektischer begrifflicher Apparat nicht imstande sei, die brasilianisch« Wirklichkeit zu verstehen. Roberto Schwarz seinerseits war auch mit seiner theoretischen Ar-tillerie eine isolierte Figur in den Sechzigern und vielleicht als einziger in der Lage, die Konvergenz zwischen der konservativen Modernisierung der Diktatur und den selbst reklamierten avantgardistischen Tendenzen in Musik ('Tropicalistische Bewegung'), (23) Dichtung ('Konkrete Dichtung') und im Theater zu verstehen, welche in diesem Augemblick, im Namen des anthropophagischen Mythos der Einverleibung, die innere und strukturelle Wahrheit Brasiliens als 'Collage' zu entdecken glaubten. In den Sechzigern gab es eine fast völlige Vermischung zwischen dem Aufführungsstil von José Celso und der neuen 'tropicalistischen Musik', die die surrealistische Montage eines archaischen Brasiliens und die moderne Landschaft der Städte als Allegorie des nationalen Charakters propagiert hatte:

Faced by a tropicalist image, faced by the apparently surrealist nonsense which is the result of the combination we have been describing the up-to-date spectator will resort to fashionable which words, he'll say Brazil is incredible, it's the end, it's the pits, it's groovy. By means of these expressions, in which enthusiasm and disgust are indistinguishable, he associates himself with the group who have the 'sense' of national character. But on the other hand, this climate, this imponderable essence of Brazil is very simple to construct, easy to recognize and reproduce. It is a linguistic trick, a formula for sophisticated vision, within many people's grasp. What is the content of this snobbery for the masses? What feelings does the tropicalist sensibility recognize itself and distinguish itself by? (By the way, just because it is simple it is not necessarily bad). [...] However, let's move on to another question: what is the historical foundation of the tropicalist allegory? (24)

Doch dieses emblematische Bild Brasiliens, so behauptet Roberto Schwarz Jahre später (25) in einer historischen Bilanz, sei 'gefroren' und nicht dialektisch. Die surrealistische Collage in der 'Tropikalistischen Musik' als 'Allegorie der Unterentwicklung' verabsolutiert ein Dilemma, das in jedem historischen Augenblick verschiedene Bedeutungen gewinnt und jedenfalls von einem Klassenstandpunkt abhängt. Dieses 'absurde Bild' der Collage, anstatt einen Schockeffekt zu produzieren, verhindert eine dialektische Vorstellung der Geschichte als Veränderung und verdeckt einen tiefen Konformismus:

Once this anachronistic conjunction has been produced, along with the conventional idea that this is Brazil, the 'ready-made' images of the patriarchal world and of imbecilic consumerism start signifying on their own, in a shameless, unaestheticized fashion, over and over again suggesting their stifled, frustrated lives, which we will never get to know. The tropicalist image encloses the past in the form of images that are active, or that might come back to life, and suggests that they are our destiny, which is the reason why we can't stop looking at them. (26)

Konformistisch sei auch angesichts der medialen Modernisierung des anthropophagischen 'Wahnsinns' Jose Celsos Theater, das mit seinem Galilei in der Szene 'Karneval in Florenz' während der schlimmsten Repression der Diktatur 1968 die linken Intellektuellen im Bild des alten Galilei erniedrigt, damit die dionysischen Kräfte des 'Abschaums', d.h. 'das Volk', siegen können.
Kurz, die kulturellen avantgardistischen Positionen, die die Diktatur zu "bekämpfen glaubten, dienten ihr doch mit ihrem Impuls und ihrer Neigung zu fragmentarischen Eingriffen, erwiesen sich als blindes Element einer konservativen Modernisierung, die zuerst eine Revolution in der medialen Struktur des Landes schafft, um es in den Weltmarkt mit einem starken und in einem technischen Simne qualitativen Fernsehern zu integrieren, so daß in den nächsten Jahren eine Fernseh-Dramaturgie exportiert wird, die durch 'anthropophagische Ingredienten' der ethnischen Vermischung und des erotischen Paradieses geprägt ist: Natur, schöne Frauen, Einladung zum billigen Sextourismus des europäischen Debuisson.
Was nun in den dreißiger Jahren auf dem Höhepunkt der europäischen Avantgarden unter dem Zeichen der Negativität stand, wurde zum zen-tralen Gemeinplatz und Dilemma der brasilianischen Kultur, fast ein zivilisatorischer Komplex: Unsere Identität ist eine Parodie, eine Collage von verschiedenen inkompatiblen Elementen. Diese Fragmentarisierung wird durch die Mentalität der Eliten begründet, deren Selbstbewußtsein verhält sich schizophren gegenüber den europäischen geistigen Strömungen und dem Bedürfnis, eine organische Kultur im Land zu entwickeln, aber aus dieser Not sollten wir eine Tugend machen. Die Anthropophagie war das anachronistische Lob dieses Dilemmas. Mit anderen Worten: Es wäre für einen brasilianischen Künstler einfach, diese absurde Collage zwischen einem archaischen Brasilien und der Moderne zu schaffen. Das Theater José Celsos und die Tropikalistische Musik haben diese allegorische Verfahrungsweise wieder aktiviert und deswegen noch einmal versagt, den historischen Augenblick selbst zu interpretieren:

The coexistence of the old and the new is a general (and always suggestive) feature of all capitalist societies and of many others too. However, for the countries which were once colonized and have now become underdeveloped, it is central, and carries the power of an emblem. This is because these countries were incorporated into the world market - the modern world - in an economically and socially backward role, that of suppliers of raw materials and cheap labour. Their link to what is new is made structurally, by means of their social backwardness, which reproduces itself, instead of cancelling itself out. In the insoluble functional combination of these two terms, then, the plan of a national destiny is laid out, there from the beginning. What is more, by cultivating 'latinoamericanidad' - in which there is a faint echo of the continent-wide dimension of the revolution - which in Portuguese-speaking Brazil is extremely uncommon, the tropicalists show that they are aware of the implications of their style And it is true that, once this way of looking at things has been assimilated, the whole of Latin America does turn out to be tropicalist. (27)

Als Brasilien sich unter einer Militärdiktatur (1964-1985) befand, die ganz modern war, wird diese Metapher endlich institutionalisiert und legitimiert, als die Gründung eines integrierten Netzwerks, das schließlich die kulturelle Einheit des Landes als unmögliche Collage der Fragmente im Fernsehen geschaffen hat: ein 'riesiges Land' mit einer ungeheuren sprachlichen Einheit sieht sich zum ersten Mal im Fernsehen als einen zerbrochenen Spiegel vermittelt durch mythische Vorstellungen.
In der Diskussion zwischen Müller und Celso verteidigt dieser gegenüber Heiner Müller die These, daß das deutsche Gegenwartstheater in Brasilien nicht nur etwas Fremdes sei, sondern feindlich zur Körperlichkeit stehe, die in der Einheit mit dem Mythos selbst Vernunft ist, für den Kritiker, Dichter und Hauptvertreter der konkreten Dichtung, Haroldo de Campos, eine "kannibalische Vernunft", (28) die unsere Teilnahme an der zivilisierten Welt sichert. In seiner artaudschen dramaturgischen Anthropologie versteht José Celso buchstäblich die Idee der kulturellen Anthropophagie als einen letzten totemistischen Akt von Befreiung und behauptet mit Leidenschaft, daß alles andere Kolonialismus bedeutet, sei es in der Form des akademischen deutschen 'emigrierten Mandarinats' oder als Inszenierungen der anderen brasilianischen Regisseure, die ihren Ruf in den Medien mit dem internationalen Prestige des deutschen Gegenwartsthea-
ters gewinnen, ohne Wurzeln in der brasilianischen Wirklichkeit zu haben. Die früheren Einflüsse von Amerika und Frankreich werden jetzt durch einen deutschen theatralischen Kolonialismus ersetzt, der inkompatibel mit der ethnischen und straßenkarnevalistischen Tradition unseres historischen Theaters ist und natürlich mit der Haltung Oswald de Andrades.
Es beginnt ein Disput zwischen José Celso und Gerald Thomas, in dem José Celso sagt, daß er der Shakespearsche "verratene König des brasilianischen Theaters" sei, er sei "das ewige Gespenst der Anthropophagie", um Hamletmaschine auf unseren Boden zu bringen, und daß die neuen Regisseure nur wie Spielberg "spezielle Effekte" kennen, um "europäische Ruinen sehr gut zu beleuchten", ohne Rücksicht auf unseren Mangel, weil diese Wirklichkeit ihnen "unerträglich" ist. Müller solle "einverleibt werden". Müller lachte dazu.
José Celso macht eine Art von obszöner Performance, er sagt, was Theater im artaudschen Sinn sein sollte. Die Übersetzung hört ab diesem Punkt etwa 30 Minuten auf. Müller versteht kein Wort auf Portugiesisch, lacht, raucht und trinkt lachend, wenn das eine oder andere Schimpfwort auf Deutsch übersetzt wird. Müller und José Celso befinden sich in einem Spaziergang mit dem Gespenst Oswald de Andrades auf zwei verschiedenen Zeitebenen. Hätte Müller die Sprache verstanden, wäre dieser Kamp gegen die kulturelle Unterentwicklung auch ein Problem für ihn als "Neger" der ehemaligen DDR, die auf den "Müll der Geschichte" geworfen worden ist, und so hätte direse Begegnung anders verlaufen können. Dies war eine versäumte Möglichkeit. Nur fünf Jahre später wird eine Truppe aus Bahia, Salvador, Olodum Medeamaterial inszenieren; aber noch einmal, Heiner Müller war nur ein Prätext und die Inszenierung ein völliger Fehlschlag.

V. Schluß

"Ich wußte noch nicht und ich ahnte schon, daß man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will". (29) Dieser Satz ist die mögliche Übersetzung von denn, was passiert ist. Das war auch meine einzige persönliche Begegnung mit Heiner Müller, der für mich immer Literatur war (30), bevor ich Herzinger und Domdeys Thesen bei meinem Forschungsbesuch 1992 in Deutschland kennenlernte. Es war schon für mich ein praktisches und zugleich theoretisches Problem, Müller in diese konservative Kreuzung eines nachholenden Modernisierungsprozesses einzuordnen, wo das Fragmentarische seines Theaters, das dem avanciertesten Material in Europa entspricht, in der Peripherie eine andere Funktionalität gewinnt. Diese Dialektik hätte ihn ganz sicher interessiert. Am Ende lädt José Celso Müller zu seinem Theater der mythischen 'Oficina Usina Ozona' ('Kraftwerk des Wahnsinns') ein, wo Celso unter dem Einfluß von afrikanischen Ritualen alles ritualisiert und karnevalisiert. Müller ging nicht hin und reiste in Richtung Süden in das 'deutsche Brasilien' der weißen Haut und der blauen Augen.

ANMERKUNGEN

(1) Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Rotwelsch. Berlin 1982. S. 94-98, hier S. 95f.
(2) "Yet paradoxically, this apparent reappearance of familiar ordering structures is paired with inherent ambiguity on the thematic level [...]. A diffuse movement that cannot be bound to a clear perspective or intention, a movement into a realm of questions for which there are no-authorial, authoritative answers". Arlene Teraoka: The Silence of Entropy or Universal Discourse: The Postmodernist Poetics of Heiner Müller. Frankfurt/M. 19S5. S. 123.
(3) Heiner Müller: 'Shakespeare: eine Differenz'. In: Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Hg. v. Frank Hörnigk. Leipzig 1989. S. 105.
(4) "Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstände so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Rügein der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes." Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt 1983. S. 40.
(5) Roberto Schwarz: Misplaced Ideas: Essays on Brazilian Culture. Hg. u. mit Einf. v. John Gledson. London 1992. S. 15-16.
(6) Roberto Schwarz: Wer sagt mir, Machado de Assis sei nicht Brasilien? In: Brasilianische Literatur. Hg. v. Mechthild Strausfeld. Frankfurt/M. 1984. S. 56-58.
(7) Antônio Cândido, der im Jahre 1918 geboren wurde, gilt als der bedeutendste brasilianische Kritiker dieses Jahrhunderts. Im Zentrum seiner Methodologie steht die Vermittlung zwischen Literatur und Gesellschaft und die Idee als Aufklärungsprozeß. In der brasilianischen Kritik bedeutet Cândido, was Hans Mayer für die Bundesrepublik Deutschland ist. Ihre Themen und Methodologien
(8) Antonio Cândido: Die Literatur als Ausdruck der Kultur im zeitgenössischen Brasilien. In: Staden-Jahrbuch-, Beiträge zur Brasilkunde. Bd. 1. Hg. v. Institut Hans Staden. São Paulo 1953. S. 30.
(9) In Brasilien läßt sich der Beginn der Modernität präzis datieren: 1922, als in São Paulo eine "Woche der modernen Kunst" stattfand. Es war die Antwort auf den französischen Einfluß, der programmatisch überwunden werden sollte. Oswald de Andrade und Mário de Andrade waren die Vaterfiguren der Bewegung.
(10) Peter Bürger erkennt in der inneren Entwicklung von Adornos Begriff des Materials zwischen der Philosophie der neuen Musik, Dissonanzen und Minima Moralia einen entscheidenden Bewertungsunterschied mit radikalen Folgen für das Montageprinzip bei Strawinsky und Schönberg. In einer ersten sehr eindeutigen Analyse schließt Adorno die Idee der Collage in der neo-klassizistischen Restauration aus dem Feld der Moderne aus, wenn sogar diese das emanzipatorische Moment des Kunstwerks für avanciert ausgibt; in einem anderen Kontext dagegen schafft er Platz für die gleiche Verfahrensweise Strawinskys innerhalb der modernen Kunst als Erweiterung der surrealistischen Collage. In dieser Grund-Extraterritorialität des Montageprinzips erweist sich bei Adorno die Angst vor dem Regressionspotential der Gewalt und Willkürlichkeit, die ihm zugrundeliegt. Im Gegensatz zu diesem Prinzip steht die immanente "Durcharbeitung der Form" als dialektische Vermittlung in der inneren Bewegung des Materials. Die Folgen sind eindeutig. Wenn das Kraftfeld eines Kunstwerks als Konstellation verschiedener technischer Probleme in ihren verschiedenen Schichten und Zeitebenen für die Einheit einer Epoche als unbewußte Geschichte sprechen soll, kann es nur ein avanciertes Material geben. Dies erscheint fast als eine normative und "dezisionistische" Dimension von Adornos Ästhetik, die immer eine zunehmende Unmöglichkeit dieser Saturationsprozesse betont. Peter Bürger fordert eine neue Bewertung von Adornos Eindeutigkeit, um genau die Folgen dieser Entwicklung zu verstehen, wo in unserem Horizont nicht mehr ein bestimmtes Material als das historisch fortgeschrittenste sich ausmachen läßt, sondern viele Materialien, und plädiert infolgedessen für eine pluralistische Lesart als dialektische Weiterentwicklung der Moderne, erweitert um "relevante Phänomene der gegenwärtigen Kunstproduktion" wie die Verwendung realistischer Techniken in Peter Weiss' Die Ästhetik des Widerstandes. Peter Bürger: Das Altern der Moderne. In: Adorno-Konferenz. Hg. v. Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1983. S. 193.
(11) Kritische Metapher von Haroldo de Campos, Hauptvertreter der 'Konkreten Dichtung' in Brasilien, der einen großen Teil seiner Arbeit dem kritischen Studium Oswald de Andrades widmete. Haroldo de Campos: Über die anthrophagische Vernunft. Europa im Zeichen des Gefressenwerdens. Im: Lateinamerikaner über Europa. Hg. v. Curt Meyer-Clason. Frankfurt/M. 1987. S . 103.
(12) Max Jacob: Le Laboratoire Central. Paris 1980. S. 76.
(13) Oswaldo de Andrade stammte aus einer alten und reichen Familie der Aristokratie des Kaffees, die eine moderne Neigung im Gegensatz zu anderen Regionen des Landes hatte, und entwickelte eine komplexe Beziehung zu einer bürgerlichen Intelligenz am Anfang der Industrialisierung São Paulos. Das Werk Oswald de Andrades ist auch eine erhellende Zeugenaussage, die eine tiefe soziale Veränderung der brasilianischen Gesellschaft aus dem ursprünglichen kolonialen Hintergrund zu den ersten bürgerlichen Beziehungen in den Städten, etwa wie Brechts paradigmatischer Weg von Augsburg durch München zur Metropole Berlin, aufzeigt. Was Berlin für Brecht bedeutet als Rausch und Geschwindigkeit des Kapitals, das im stilistischen Gestus als Kampf übersetzt wird, ist für Oswald de Andrade São Paulo als leidenschaftliches Objekt.
(14) Oswaldo de Andrade: "Anthropophagisches Manifest". In: Lettre Nr. 11 (1990). S 40-41. Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann. Erschien zuerst in Revista de Antropofagia. Nr. 1. São Paulo, Mai 1928. S. 20-21.
(15) Ebd. S. 40.
(16) Ebd.
(17) "Der Kampf zwischen dem, was man das Ungeschafftene nennen könnte, und der Schöpfung - veranschaulicht durch den ständigen Widerspruch zwischen dem Menschen und seinem Tabu. Die alltägliche Liebe und der kapitalistische modus vivendi. Anthropophagie. Einverleibung des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwändeln. Das menschliche Abenteuer. Die irdische Zielsetzung. Dennoch ist es nur den reinen Eliten gelungen, die fleischliche An-thropophagie zu vollziehen, die den höchsten Lebenssimn in sich trägt und alle vom Freud ausgemachten Leiden sich erspart, katechetische Leiden. Was geschieht, ist nicht eine Sublimierung des Geschlechtstriebes. Es ist die Wärmeskala des anthropophagischen Triebes. Erst fleischlich, wird er wählerisch und schafft die Freundschaft. Affektiv, schafft er die Liebe. Spekulativ, die Wissenschaft. Er weich ab und überträgt sich. Wir kommen zu seiner Herabwürdigung. Die niedere Anthropophagie, angehämift in den Sünden des Katechismus - Neid, Wucher, Verleumdung, Mord. Die Seuche der sogenannten gebildeten und christianisierten Völker ist es, wogegen wir vorgehen. Die Anthropophagen." Ebd. S. 41.
(18) Im Anthropophagischen Manifest Andrades heißt es: "Der natürliche Mensch. Rousseau. Von der französischen Revolution zur Romantik, zur Bolschewistischen Revolution, zur Surrealistischen Revolution und zum technisierten Barbaren Keyserlings. Wir sind auf dem Weg". Ebd. S. 41.
(19) 'Pindorama' ist der ursprüngliche indianische Name Brasiliens, der von Andrade übernommen wird, der es damit in Gegensatz zu 'Brésil', dem französischen Namen des Holzes, bezeichnet. Sogar der Name Brasiliens ist Attribut der Kolonisatoren.
(20) Ebd. S. 41
(21) Das Anthropophagische Manifest läßt sich den großen Manifesten der europäischen Avantgardebeweguangen an die Seite stellen. Wie in den dadaistischen Manifesten geht es auch in dem Text von Oswald de Anolrade um den Ausdruck einer radikalen Revolte, hier gegen die Kolonisierung des Landes, die ja mit der Unabhängigkeit nicht beendet war, sondern in der intellektuellen Kolonisierung eine Fortsetzung gefunden hat. 'Tupi or not Tupi, that is lhe question'. Dagegen setzt: Andrade die Reste einer Karibischen Kultur: 'ein teilmehmendes Bewußtsein, eine religiöse Rhythmik' und 'die prälogische Mentalität' sowie den Synkretismus aus Katholizismus und einheimischen Kulturen: 'Wir ließem Christus in Bahia zur Welt kommen'. Andererseits heißt es auch: 'Gegen den Kerzenstock-Indio. Den Manriensohn-Indio'. Ob es sich dabei um provokatorische Selbstwidersprüche handelt 'wie im Dadaismus oder ob das, was mir als Widerspruch erscheint, anders zu interpretieren ist, um das zu entscheiden, dazu fehlen mir die Kontextkenntnisse. Übriggens, Alfred Lorenzer, eim der Frankfurter Schule nahestehender Psychoanalytiker, hat in seiner Kritik des Zweiten Vatikanischen Konzils, Das Konzil der Buchhalter (1981), die Ritualle und gegenständliche Symbolik der lateinameri-kanischen Kirche als 'begrenzten Freiraum für die Unterdrückten' beschrieben, um Ihre Lebensentwürfe,und Lebensformen zum Ausdruck zu bringen. Mich hat diese Deutuing, die zugleich Kritik eines rationalistisch verengten Aufklärungsbegriffs ist, überzeugt. Aber um auf Ihre Frage nach der Einschätzung des Anthropophagischen Manifests zurückzukommen, vielleicht kanm man sagen, daß der Eingeborene darin die Stelle einnimmt, die im ersten Manifest des Surrealismus dem Kind eingeräumt wird. In beiden Texten würde gegen westliche Modernisierung und Rationalisierung auf einen Ursprung verwiesen, zu dem es kein Zurück gibt. Die Stärke dieser Texte bestünde dann darin, daß sie die ihnen zugrundeliegende Aporie eingestehen." Peter Bürger: Interview für Folha de São Paulo über die portugiesische Fassung seiner Theorie der Avantgarde. São Paulo. Dezember 1998 (erscheint voraussichtlich 1999).
(22) Marcos Augusto Gonçalves: Heiner Müller defende o Teatro sem Direção ("Heiner Müller verteidigt ein Theater ohne Regie"). Folha de São Paulo vom 20. 7.1998.
(23) Die Tropicalistische Bewegung war eine musikalische Richtung, deren Hauptvertreter Caetano Veloso und Gilberto Gil waren. Sie vermischten die melodischen Elemente der brasilianischen Volksliedtradition mit elektronischen Erfindungen.
(24)Roberto Schwarz: Brasilien Kultur und Politik 1964-1969. In: Misplaced Ideas: Essays on Brazilian Culture (wie Anm. 6). S. 141. Ebd. S.144.
(25) Ebd. S.144.
(26) Ebd.
(27)Ebd. S.141 und S. 142.
(28) Im Gegensatz zu Roberto Schwarz, dessen dialektische Methode nicht das Barock in die Entwicklung der brasilianischen literarischen Tradition einordnet, verteidigt Haroldo de Campos eine "anthropophagische Vernunft": "Bereits im Barock wächst eine anthropophagische Vernunft heran, die den vom Okzident vererbten Logozentrismus dekonstruiert. Differenzierend im Universalen begann von dorther die Verdrehung und Verrenkung eines Diskurses, die uns aus demselben hätten herausreißen können. Es ist eine Antitradition, die durch die Leerräume der traditionellen Geschichtsschreibung geht, durch ihre Lücken infiltriert wird und durch ihre Risse sickert. Es handelt sich um Antitradition nicht aufgrund direkter Abkunft - das wäre nur der Ersatz einer Geradlinigkeit durch eine andere -, sondern aufgrund von Anerkennung bestimmter Entwürfe und Nebenwege auf der ganzen Länge des bevorzugten Leitfadens der normativen Geschichtsschreibung." Haroldo de Campos (wie Anm. 12). S. 108
(29) Heiner Müller: "Ich wollte lieber Goliath sein". In: Heiner Müller Material (wie Anm. 3). S. 60.
(30) "Müller sagt Geschichte, meint aber Trauma. Er sagt Proletariat, meint aber das Erhabeme. Er sagt Revolution und meint Literatur." Richard Herzinger: Masken der Lebenswevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992. S. 10.

sexta-feira, 28 de outubro de 2011

Gepanzerter Blick und technologischer Eros bei Heiner Müller


















Was meinem Auge diese Kraft gegeben,
Dass alle Misgestalt ihm ist zerronnen,
Dass ihm die Nächte werden heitere Sonnen,
Unordnung Ordnung, und Verwesung Leben?

Was durch der Zeit, des Raums verworr'nes Weben
Mich sicher leitet hin zum ew'gen Bronnen
Des Schönen, Wahren, Guten und den Wonnen,
Und drin vernichtend eintaucht all' mein Streben?

Das ist's. Seit in Urania's Aug', die tiefe
Sich selber klare, blaue, stille, reine
Lichtflamm', ich selber still hineingesehen;

Seitdem ruht dieses Aug' mir in der Tiefe
Und ist in meinem Seyn, - das ewig Eine,
Lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen.
(1)


Wenn wir den Flug einer Taube sehen, so ist das weitaus mehr als bloßes Sehen. Wir zeichnen deren Bahn im Raum nach, wir richten einen dreidimensionalen Raum ein, damit er diese Zeichnung aufnehmen kann, wir ahnen den Flügelschlag, den Luftwiderstand, und beinahe sehen wir nun, als hätten wir Röntgenaugen, das Skelett der Taube. Oder wäre diese Tiefenstruktur nicht etwas Oberflächlicheres als die Taube selbst, das die Taube verbirgt: vielleicht jenes anatomische Bild, das wir im Biologieunterricht des Gymnasiums gesehen haben und das uns jetzt wie ein Schema vorschwebt? Oder wären es nicht noch andere Tauben, die wir früher am Himmel, auf der Leinwand des Künstlers oder des Kinos oder auch einfach in unserer Phantasie auf der Netzhaut gesehen haben, die vom Köder eines literarischen Textes angelockt werden? Könnten diese anderen phantomhaften und schematischen Vögel, die aus anderen Texten kommen, nicht als Schlüssel der Lektüre dienen, als Codes, damit wir einen anderen Text lesen, der zunächst nur die Wahrnehmung des Flugs einer Taube schien?
Rubens Rodrigo Tones Filho (2)

Uranias Auge
Der von Fichte definierte intensive Blick Uranias steht am Beginn einer neuen Reflexivitätskonstellation, die den deutschen Idealismus und sein philosophisches Theater begründet haben. Das Auftauchen der transzendentalen Sichtweise führte in jede Darstellung die funktionale Verdoppelung des Alphabets der Wirklichkeit ein, in der sich fortan die Virtualität und die Gegenwart der Figuren überschneiden und dramatisch entwickeln. Wenn das Virtuelle die Möglichkeit einer Erfahrung ist, die sich über die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren als a priori hinaus erstreckt, so negiert es durch seine eigene zeitliche Genese den Körper der Worte selbst, in dem der Welttext buchstabiert wird, und weist wie eine Abschiedsgeste auf jenen Bereich hin, der bereits in der Vergangenheit vom Phantom der Metaphysik kolonisiert wurde und dessen Tore sich nun für immer in der Immanenz einer Phantasie schließen, die sich unablässig weiter entfalten wird.
Das, was sieht und gesehen wird und dabei uneingeschränkt in der Demiurgie des Ichs ohne räumliche Koordinaten erglänzt, offenbart zwei Vektoren: Das Denken entsteht aus der Zentrifugalkraft seiner spontanen Tätigkeit, und auf dem Kamm seiner Flutwelle trifft es mit einer zentripetalen Stoßkraft als Reflexion (>Entgegensetzung<) zusammen; das Denken kehrt immer wieder zu sich selbst zurück und erzeugt sich in der Reziprozität bei der Vektoren im leeren Raum der freien Phantasie als ein genetischer Blick, in dessen Gesichtskreis sich jede Darstellung dort, am Entstehumigsort der Bedeutungen, im Umfeld der Sprachlosigkeit des Dings an sich - einer Schattenzone und des negativen Horizonts jeder Bedeutung -, äußert und auf diese Weise die Umrisse der Erfahrung entwirft, indem es das sinnlich Wahrnehmbare auslöscht und verhindert, daß sich dieselben trügerischen Bedeutungen in den Bereich des Übersinnlichen projizieren.
Wenn die Kantischen Verstandeskategorien >leer< sind, sobald sie sich von den Gegenständen der Erfahrung entfernen, und nur einen Sinn als Alphabet und Virtualität zum Buchstabieren des Wirklichen haben, so besteht ihre Möglichkeit gerade darin, den Sinn des Welttextes all Sichtbarkeitsschwelle jeder Erfahrung >zu bezeichnen<. Indem Fichte aus dem Gebrauch dieser von Kant eröffneten Perspektive sogar noch die letzten Folgen ableitet, potenziert, flexibilisiert und überwindet er durch die Metastase dieses Blicks die Begriffe des ganzen Dualismus, in den sich diese Metaphysik verstrickt hatte -und an dem sie immer noch hartnäckig festhält im Zwischenraum zwischen dem, was gesehen wird, und dem, was sieht, in einer unaufhörlichen Bewegung, denn das, was sieht, ist ja nicht das Licht dieser reinen Bedeutung, wohl aber der Geist, der den Buchstaben erhellt. Dieser perspektivische Blick, die Voraussetzung und Schwelle aller Diskursivität, polarisiert jedes Material mit der Reflexivität, die dessen Kehrseite erhellt, denn er ist tatsächlich der Keim seines Epos, weil er die semantische Schwerkraft eines Codes herausfordert, der noch an die residuale Referentialität der illusorischen Objekte der dogmatischen Wissenschaft gebunden ist, und das gerade, weil er diesen neuen Horizont noch nicht benennen kann, was durch die umfassende Überarbeitung von der Wissenschaftslehre bewiesen wird. Als versengte dieses reine Licht solche Gegenstände - Gott, Seele und Welt -, bleibt uns nur die Asche dieser Figuren übrig, von denen wir nicht ablassen. Der Blick, der aus dem dogmatischen Schlaf erwacht, bildet sich nicht in der Linearität des Diskurses heraus, er ist nicht vor ihm oder außerhalb von ihm, sondern leuchtet aus den diskreten Einheiten dieses neuen Alphabets hervor, in der Konvergenz und Überwindung von Form und Inhalt.
Notwendig wäre jedoch, auch einen nicht weniger beunruhigenden, fast verrückten, >anderen Blick< anzuerkennen, der sich aus der reflektierenden Spirale des Auges Uranias entwickelt, der »Moment der Wahrheit, wenn das Bild des Feindes im Spiegel auftaucht«. Das, was »in meinem Leben lebt und in meinem Blick blickt« führt in diese Dynamik ein Prinzip der Nichtidentidentität ein, das es in seiner reinen Tathandlung überwacht und beaufsichtigt und dem >Blut der Bilder< sein corpus absconditum entnehmen will. Unter der Oberfläche der elektronischen Totalität unseres- Weltsystems offenbart dieser unmittelbare Blick schließlich seine taktische Unsichtbarkeit: Sowohl der deutsche Idealismus wie auch der reine Krieg als die totale Beschleunigung der Vektoren nähren sich von derselben Hybris, wenn sie durch ein gegenstandsloses Denken die Grundlage der Wirklichkeit selbst angreifen und vernichten.
Durch die Virtualisierung des modernen Kriegsschauplatzes gewinnt diese Qualität einen neuen Sinn: Im Monitor-Blick der Generalstabsbunker geht das Gemetzel weiter, bis es zeitlicher- Trägheit verfällt.

Der phänomenologische Blick
Die Literaturwissenschaftlerin Genia Schulz hat als erste hervorgehoben, daß in Heiner Müllers lyrischer Sensibilität, in der >postdramatischen Landschaft der synthetischen Fragmente< der siebziger Jahre, immer wieder ein zersetzender Blick< (3) thematisiert wird. Die formale Intensität und der Reduktionsdrang scheinen eine zentripetale Bewegung in der Schrift anzugeben, die die szenische Referentialität und ihre zentrale visuelle Perspektive eines kartesianischen Zeichens auflöst. Besonders im Triptychon der «deutschen Geschichte - worin eine genealogische Schlüsselsynthese des Modells einer Triebgeschichte gesucht wird, die über jenen von der Aufklärung kolonisierten Bereich hinausgeht, in der sich die Vorstellung vom autonomen Subjekt herausbildet - entwickelt sich die analytische Kraft dieses unkörperlichen Blicks hypertroph, bis sie den Zenit der Mittagskonstellation, den Nullpunkt der geschichtlichen Entwicklung, einbezieht. Noch symptomatischer ist, daß Müller nunmehr die >Material<-Kategorie als Kettenglied der Reflexion und Fluchtpunkt der grundsätzlichen Nichtidentität zwischen Subjekt und Objekt im inneren Raum der Form und aus dem Blickfeld der Tradition, insbesondere in seinem Verhältnis zu Brecht, zunehmend betont: Die Produktivität des Materials offenbart sich gerade im per-spektivischen Blick, der, indem er die ontologisierende Trägheit dieser traditio und die >Einschüchterung durch die Klassiker< überwindet, im konstruktiven Moment jedes Werks der Vergangenheit jenen Entwurf wiederbelebt, der ihm vorangeht, jedoch mit dessen Vollendung nicht verschwindet, wie eine Geste, die sich auf das Kommende projiziert. Diese Reflexivitätskonstellation der Gedankenspiele als >Material< bei Müller entwickelt sich nunmehr parallel zu einer zunehmenden Virtualisierung und Entmaterialisierung der Bühne im Verlauf einer kohärenten Bewegung, die von Die Schlacht bis Bildbeschreibung reicht, mit der folgerichtig ein formaler Zyklus abschließt. In diesem Moment gewinnt die szenische Maschinerie Müllers ihren emblematischen Wert als Plattform und Konvergenzpunkt der wichtigsten Bühnentraditionen des Jahrhunderts, wenn er erklärt, das Theater als Vision der negativen Totalität der Welt in ihrem dialektischen Winterschlaf sei unmöglich - ein latenter Blick auf ein >Theater der Zukunft< und eine rein virtuelle Szene in der Form des weißglühenden Monologs Lessings in Gundling, der sich in effigie angesichts der nutzlosen Schönheit seiner Lyrik unter den Ruinen des Theatergebaudes verzehrt.
Aus der Möglichkeit, als Grundlage der Politik unmittelbar >der Geschichte ins Weiße im Auge< zu sehen, würde also eine neue Sichtbarkeitsschwelle am Zenit des Firmaments auftauchen; trotzdem weist sie als extremer Punkt dieser Bewegung zwangsläufig auf den Untergang jedes utopischen Rückstands der Bilder am Boden der Erfahrung hin. Immer wieder angeführt wird die besonders paradigmatische Analyse die Genia Schulz dem Gedicht Bilder gewidmet hat, das mit einem phänomenologischen Schlüssel über das theologische Verbot von Versöhnungsbildern hinaus interpretiert wird.(4)

Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig.
Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und
Enttäuschung.
Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom
Flugzeug
Aus: ein Dampf der die Sacht nimmt. Der Kranich nur
noch ein Vogel.
Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer
erfrischte
Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag
Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von
Schweiß blind
Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt
und
Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden
endlichen Gattung
Zwischen den Zeilen Gejammer
auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der
Schrecken.
(5)

In seinem begrenzten Kreis gestaltet das Gedicht einen immanenten Säkularisierungsprozeß: Die utopische >Substanz< der Bilder, eine perspektivische Illusion, wird von der Praxis in der Undurchsichtigkeit des Existenten vereinnahmt und abgelagert. Das Verbot des Versöhnungsbildes reinigt den künstlerischen Stoff und läßt ihn auf den Boden der Erfahrung hinabsteigen, in der die Kunst als ein zu rechtfertigendes Privileg geboren wird. Die Bilder befruchten die Wirklichkeit, produzieren und verfälschen sie. Wenn sich das Rohmaterial der naiven Lyrik von dieser Unmittelbarkeit nährt, so ist die Herstellung der Identität das Erlernen jenes Blicks, der, wie in Die sinnliche Gewißheit, sich nicht um das Trugbild eines ursprünglichen äußeren >Inhalts< kümmert. Diese Säkularisierung der Bilder entspricht auch einer schrittweisen Historisierung ihrer Inhalte. Wenn die Bilder derselben Tradition zufolge konventionell zunächst eine >reine< und >unmittelbare< Wirklichkeit (>alles<) bedeuten, so werden sie nach und nach greifbar und Bedeutungsträger (>geräumig<), indem sie ihre Autonomie während eines langen Zeitraums entwickeln. Die Wirklichkeit zu >lesen< würde daher bedeuten, sie in ihren Phänomenen mit Hilfe von Kategorien zu >buchstabieren<, die bereits als eine unter unseren Händen entstehende und vergehende Struktur vorhanden sind. Sie ist schon von jeher eine Wirklichkeit, und das durch alle Texte, die sie aktualisiert. Doch das Gedicht weist auch auf die bezeichnende Geste hin, die der Denotation dieser bereits sozialisierten Inhalte vorausgeht: Die Demonstrativpronomen >dies< oder >jenes< geben einen Vektor an, der uns auf das Objekt, die bereits gestaltete Struktur des Wirklichen, hinweist, dessen Ort tatsächlich eine Abwesenheit als willkürlicher Bedeutungszusammenhang oder als die Illusion einer substantiellen Bedeutung in der sinnlichen Erfahrung ist, an deren Oberfläche wir dahingleiten. Das >dies< unserer Bezeichnungen, das als Virtualität in Müllers Gedicht gegenwärtig ist, kann nicht unmittelbar sein, sondern ist mittelbar wie Nebel, der sich in den Wolken- und Rauchmetaphern über den naiven Blick legt.

Die Panzerung des Ichs und der technologische Eros
Wenn Bilder noch eine überzeugende Verheißung der Säkularisierung enthielt, so verliert der Blick bei Müller allmählich diese Unschuld in einer zunehmenden Synergie mit der Maschinenwelt als seiner Andersheit in der Projektion eines über den Schmerz und die Narben der Prosa der Geschichte hinausweisenden Sternenkörpers. Die Hochtechnologie ist nicht nur ein >Thema< der Poetik Heiner Müllers, sondern auch ihre Form und ihr Horizont. Die Denaturierung des Körpers und seiner Erweiterungen darf nicht außerhalb der Sinne bleiben, vielmehr muß sie als Nervengeflecht der neuen Medien und in der Art gedacht und verstanden werden, wie sich diese neuen Technologien in einem kollektiven Körper organisieren und aus ihm ihren imaginären Träger machen. Dies ist der >Leib< (die von der Seele bewohnte Körperlichkeit) des Müllerschen Theaters. In seinem Nachruf im Berliner Ensemble am 16. Januar 1996 bezog sich Alexander Kluge (6) auf die Vorliebe für das Lyrische in Müllers Werk, um die Chiffre des Jahrhunderts zu erfassen: der >Charakterpanzer< der Männer, die aus den Schützengräben von Verdun kommen. In ihm wurde am Beginn -unseres Jahrhunderts das erste Urteil der Erzählung Kafkas durch die Verwandlung/Panzerung der Sensibilität in einem doppelten Sinne buchstabiert: Aus der Materialschlacht, in der Differenz zwischen Feuerdichte und Manöver, entstehe eine neue >Naivität des Erzählens«, die ohne Zentrum und rein äußerlich sei, wie die Donquichotterie der Brutalität deren Zeugnis uns Jünger biete; diese Panzerung führe jedoch als Prothese und Rüstung der Sinne zwangsläufig nach Auschwitz.
Heiner Müllers Theater des totalen Krieges wäre daher das vorgeschobene Territorium dieser neuen ästhetischen Wahrnehmungskonstellation, ein noch namenloser Raum, dessen Körper von den Stoßtruppen der Materialschlacht überrollt wird. Diese Andersheit äußert sich in der besonderen Form eines technologischen Eros durch die sich vervielfachenden Blicke und in der ständigen Kennzeichnung der technologischen Struktur der Bilder und Artefakte einer Bühnenökonomie, die sich nicht im Maßstab des individuellen Körpers der Schauspieler wiedergeben lassen. Walter Benjamin hatte bereits festgestellt, daß der Photoapparat durch sein Objektiv die Bilder des lebenden Körpers erfasse, doch er gibt den menschlichen Blick nicht in seiner Undurchsichtigkeit zurück (7). Von diesem nie zurückgegebenen Blick, auf den ein anderer gepanzerter Blick hinweist, spricht Müllers Theater oft.
Die Kolonisierung der Naturwelt durch die Industrie während der letzten zweihundert Jahre floß in Form von romantischen Phantomen, als Sehnsucht nach einem Raum am Rand der Zivilisation, in die Vorstellungswelt zurück. Je mehr sich dieser Kreis schloß, um so mehr offenbart sich heute diese rückblickende und vielsagende Orientierung zusammen mit der technologischen Welt als Hemmnis für eine Zukunft, die nur in einer Gemeinschaft von Mensch und Maschine, Organischem und Anorganischem denkbar ist. Doch Müller verherrlicht nicht die klassische Maschinenwelt als metaphori-schen und utopischen Energieträger des sozialen Körpers - die schon die künstlerische Phantasie der linken und rechten historischen Avantgarden entflarnmt hatte, entweder in der Erwartung einer Konvergenz zwischen sozialer Revolution und technischem Horizont oder als Dystopie in der Materialschlacht, in der diese Energien wie metaphysisch geartete >Elementarkräfte< erscheinen, als die Maschinen des Dampf- und Elektrizitätszeitalters noch über ein mimetisches, beinahe totemistisches Potential verfügten, um diesen Strömen eine Form zu geben. Vielmehr dramatisiert er ein anderes Bezugsstadium des Theaters, bei dem die neuen Reproduktionstechnologien, die sich nun mit der Hegemonie der symbolischen Sphäre verbinden, unsichere Konturen angenommen haben und nicht mehr das gesamte System darstellen können. Aus der Auflösung und Erweiterung des >Natur<-Begriffs selbst ergibt sich bei Mlüller eine neue Produktivität als Gegenmittel zu jeder engstirnigen Bewunderung des Ökologischen. Denn der menschliche Stoffwechsel wirkt ja zwangsläufig räuberisch und negativ, weil er mit dem geometrisierenden und konvergenten Blick der Menschheit zu-sammenhängt, durch den sich der Raum in mehreren virtuellen Dimensionen vervielfältig. Wenige Texte des zeitgenössischen Repertoires sind bei der Erkundung dieses neuen, umfassenderen Naturbereichs so weit vorgedrungen wie die acht Seiten von BildBeschreibung.
Bildbeschreibung führt die Inszenierung der Perspektive bis zur Grenze ihres Bezugssystems, indem es die raumzeitliche Kontinuität segmentiert und auf die dialektischen Kategorien wieder das ihm zugrunde liegende Identitätsprinzip selbst anwendet; das Subjekt hat einen dauerhaften Bezug zu seinen sich aleatorisch verwandelnden Objekten verloren und unterliegt ihrem schnellen Ortswechsel. Auf diese Weise will der Text einen >negativen Horizont< als Kehrseite einer imaginären >Landschaft< entwerfen, wo der Blick des Beobachters ständig überwacht wird und niemals mit dem Brennpunkt der Lektüre übereinstimmt. Bildbeschreibung wird mit einem >beschreibenden Zenit< eröffnet, von dem alle folgenden Metamorphosen ausgehen, die ihm eine hohe narrative Stufe zuweisen. Der sich herausbildende subjektive Blick muß zunächst die ihn umgebende mythische Unbeweglichkeit beseitigen. Müller will gerade den Nullpunkt dieser Herausbildung als einen Augenblick der Nichtidentität erfassen, aus dem ein neuer Blick entstehen wird, der nun wirklich einen Sinn hat. Das Pathos dieser Utopie ist nicht die Verfremdung einer gleichmütigen Betrachtung, sondern die Dramatisierung von >zwei Blicken im Krieg<, wie Hans-Thies Lehmann (8) feststellt: der absolute Blick und der Blick, der sich ihm widersetzt, um die >Kehrseite< der Phänomene kennenzulernen: ... kann geschlossen werden, daß die Sonne, oder was immer Licht auf diese Gegend wirft, im Augenblick des Bildes im Zenit steht, vielleicht steht DIE SONNE dort immer und IN EWIGKEIT: daß sie sich bewegt, ist aus dem Bild nicht zu beweisen, auch die Wolken, wenn es Wolken sind, schwimmen vielleicht auf der Stelle, das Drahtskelett ihre Befestigung an einem fleckig blauen Brett mit der willkürlichen Bezeichnung HIMMEL...(9)

Der erste, undifferenzierte Blick in Form des weißen Lichts in der Ewigkeit ist derjenige, der den Horizont blockiert (>die Farben töten<): Der sich wiederholende Blick ist auch Reflex der Gewaltbilder bei Shakespeare als >ewige Wiederkehr<. Der mythische Blick betrachtet das Bild dieser Landschaft aus dem Zenith >jenseits des Todes<. In seiner Starre sterilisiert er jede befruchtende sinnvolle Form des Werdens, dem sich kein anderer widersetzen kann. Diese Landschaft wird erst >lesbar<, wenn aus unserer sinnlichen Erfahrung ein anderer Blick eindringt: Im Zwischen räum zwischen beiden, zwischen dem, der sieht, und jenem, das weiß, daß man es in einer unaufhörlichen Bewegung sieht, beginnt eine Folge bedeutsamer Metastasen. Dieser Prozeß entwickele sich in einer >unsichtbaren Unsichtbarkeit<, schreibt Lehmann weiter. Wie Uranias Blick vervielfältige sich das Fremde, das aus der Spiegelung dieses Logos entstehe, in anderen Figuren. Dieser andere Blick, der gegen die Unbeweglichkeit des beschreibenden Zenits kämpfe, solle die ewige und geschlossene Gegenwart des Bildes befreien, das voll von sich selbst als reiner Unmittelbarkeit sei, bis eine >neue Lektüre< eingreife, die deren Rahmen irmplodieren lasse und die Zeitlichkeit in den aufeinander folgenden Metamorphosen befreie. Müllers Poetik offenbare sich daher als eine Hermeneutik des Bildes: »Mich interessierten die Unstimmigkeiten in dem alten Text«, kommentiert er seine Bearbeitung des Prometheus. »Denn süß ist wohnen wo der Gedanke wohnt,/entfernt von allem«, heißt bei Müller der Vers aus Hölderlins Ödipus-Übersetzung - statt: »entfernt von Übeln«. Infolge der zunehmenden Kolonisierung der Phantasie durch die Medien wird die Verblendung intensiviert, die zur Blindheit durch die Intransitivität der Wirklichkeit als einer ständigen Kapitalbewegung führt:

SCHWARZFILM
Das Sichtbare
Kann fotografiert werden
O PARADIES
DER BLINDHEIT
Was noch gehört wird
ist Konserve
VERSTOPPE DEINE OHREN SOHN
Die Gefühle
Sind von gestern Gedacht wird
Nichts Neues Die Welt
Entzieht sich der Beschreibung
Alles Menschliche
Wird fremd (10)

Das Ergebnis dieses Verlöschens des sinnlich wahrnehmbaren Horizonts ist die absolute Ausklammerung des lyrischen Ichs. Die Geste dieses Gedichts, das Müller an seinem Lebensende geschrieben hat, scheint auf den Epilog der schwarzen Prosa von der Dialektik der Aufklärung hinzuweisen: »Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.« (11)
In der modernen Reklamemaschinerie erhält die numerische Fiktion selbst die Aussagekraft der Objektivität. Nur das Kapital ist Subjekt der Landschaft. Das lyrische Ich, das sich der Selbstbeschreibung entzieht und sich als Mythologie aufhebt, bestimmt die Fiktion des Dialogs. Wenn es Zeugen gibt, können diese lediglich imaginär sein, ein statistischer Wahn. Die Selbstbezüglichkeit dieses Räderwerks ist nichts anderes als der Autismus des Kapitals, das über das Menschliche spottet.

Der unverhüllte Rest

BRECHT
Wirklich, er lebte in finsteren Zeiten.
Die Zeiten sind heller geworden.
Die Zeiten sind finstrer geworden.
Wenn die Helle sagt, ich bin die Finsternis
Hat sie die Wahrheit gesagt.
Wenn die Finsternis sagt, ich hin
Die Helle, lügt sie nicht.
(12)

Wenn bei Brecht die direkte Beziehung zum Theater der Aufklärung offenbar die Extreme eines literarischen Projekts einschließt, das seine Spannung aus der Konfrontation zwischen der Helligkeit und den sich aus der inneren Bewegung des Materials selbst ergebenden Schattenzonen erhält, so will Heiner Müllers Blick eine neue Größenordnung aus dieser Dynamik ableiten. Das einleitende Umstandsvwort (>wirklich<) scheint eine emphatische, beinahe didaktische Geste vorauszusetzen; tatsächlich müßte man die Undurchsichtigkeit des >weißglühenden Kapitals< des Tausendjährigen Reichs als die Vollendung des kolonialen Entwicklungswegs der europäischen Aufklärung anerkennen, die die >Große Wahrheit< der Produktionsverhältnisse verwirklicht, eine Uhr, die der Faschismus hartnäckig vorstellen möchte und über die Brecht in der Emigration eine Synthese erarbeiten wollte, die ironischerweise den Schrecken rationalisierte und ihn aus dem Bereich der künstlerischen Wahrscheinlichkeit seines Materials selbst ausschloß, indem er sich für die Parabelform entschied. Als Brecht das Theater problematisierte, brachte er sich in die paradoxe Lage, die Theorie darzustellen und sie zu einer fiktionalen Dimension zu erheben. Doch der >Spiegel< Brechts ist nicht derselbe wie jener der Parteigänger der Widerspiegelung, und er kopiert nicht die Wirklichkeit, sondern gestaltet sie nach, indem er den technischen/archäologischen Charakter der Bilder veranschaulicht und umfunktioniert. Aus dieser Sicht könnten wir schwerlich von einem Spiegel oder sogar von einer organischen und naturalistischen Kontinuität zwischen der Wirklichkeit und dem sprechen, was aus dem Material gestaltet wird, auch wenn das Bild eines Rückspiegels in dem perspektivischen Sinn, den Brecht der Tradition und der ihr immanenten Pädagogik zuschrieb, nicht unangemessen wäre, weil er die Lesbarkeit seines Projekts in eine wirksame Totalität einbezog, die in den von ihm geschaffenen Produktionsmodellen erzeugt und negiert wird.
Das Paar Helligkeit und Undurchsichtigkeit bildet jedoch nicht nur eine lineare Polarität. Im Bereich der Notwendigkeit und der mechanischen Kausalität sind sie Antipoden und definieren sich durch ihre gegenseitige Ausschließung. Der innere Expansionsdrang des Werks dehnt seine Eigenschaften auf das Subjekt aus, das sich naturalisiert. Doch die erzählende Struktur der Parabel mimetisiert und zerstört die Distanz der Aufklärung, indem sie diese Attribute in der blinden Kausalität der Bewegung naturalisiert, bis eine neue Reflexivität zu einer kopernikanischen Revolution der Bühne führt. Die souveräne Geste des ersten Verses schien eine klare Teilung der Welt in >wir< und >sie< einzuschließen, die noch in Furcht und Elend vorhanden ist, dessen Triumph wie Erfolg - eine weitere objektive Ironie - von seinem Naturalismus herrührt, in diejenigen, die im Besitz der historischen Gewißheit sind, an der virtuellen Linie, die seinen szenischen Aufbau durchdringt, und die sich noch in den rationalen und irrationalen Kräften im Geschichtsprozeß erkennen lassen.
Wenn diese beiden natürlichen Größenordnungen jedoch personalisiert sind, lassen sie sich nur vermittelt durch den Diskurs definieren: Die eine muß sich durch die andere bestätigen, ohne sie aufzuheben. Durch diese Prosa der Elemente wird die Zeitlichkeit historisch und konstitutiv. Der Zwischenraum zwischen beiden ist nicht leer, und das Hin- und Herschwingen zwischen diesen Versen weist gerade daraufhin, daß es unmöglich ist, das zu verfestigen, was sich unaufhörlich weiterbewegt und sich nicht mit anachronistischen Kategorien erfassen läßt, was eine Form der Universalität enthält, die sich selbst bestätigt und sich ihrer eigenen Unmittelbarkeit und Kontingenz entzieht. Das heißt, aus der Kombination dieser Elemente wird sich in neuer Anfang ergaben, der gleichzeitig beide Bereiche einschließt und der zwangsläufig als das Gebiet erscheint, auf dem es keine Möglichkeit zu einem teleologischen Urteil gibt. Das anonym wie die letzten Verse von Der Horatier ist, ein anonymer Rest, der für immer jenseits des Horizonts bleiben wird.
Müller wechselt zwischen zwei Blickfeldern, und seine Sichtweise ist auf die Brechung ausgerichtet, die an der Grenze zwischen beiden eintritt, die >Überschwemmung< der Gegenwart durch die >Flut< der ontologisierenden Kraft der traditio und durch die Bewertung der notwendigen Illusionen, die im Fall Brechts aus strategischen Gründen auf ideologischer Ebene bedingt werden, was seine eigene Wirkung beeinträchtigt. Gerade aus dieser größten Nähe zum Schwerpunkt des Brechtprojekts ergeben sich eine Differenzierung und Kontinuität, wie man sie in der modernem Kunst selten beobachtet hat.

Das Vaterland und der Körper der Worte
Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der: Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Rau m des reinen Verstandes.
Immanuel Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (13)

Im Auftrag erklärt Debuisson in seinem Schlußmonolog, »die Poesie war immer schon die Sprache der Vergeblich¬keit«, denn >die Geschichte<, von der sich Debuisson distanziert, >reitet auf toten Gäulen ins Ziel<. In einer Restaurationsperiode scheint selbst die Schönheit nach jenem fernen Kontinent zu emigrieren, wohin sie in einem Geisterschiff abfahren wird, als der vom Direktorium für Jamaika erteilte Auftrag nach dem 18. Brumaire gescheitert ist. Für den jakobinischen Arzt war die revolutionäre Geburt eine Totgeburt wie das umherirrende Licht bereits erloschener Sterne. »In der Zeit des Verrats/sind die Landschaften schön«, notierte Müller ironisch im Jahre 1958, denn bei solchen Gelegenheiten erscheinen gewöhnlich keine Engel. Erst im Moment des Umschwungs zur Farce erkennt Debuisson endlich, wie schön die Insel ist, und an dieser Schwelle zum Erhabenen, zwischen dem Historischen und dem, was der Textur seiner Prosa entgeht, taucht er unter zum Südpol. In der inneren Geometrie des Tex¬tes gehorcht diese Bewegung einer horizontalen Richtung, wobei das Werden als Differenz geschwächt wird und in einer unlesbaren Landschaft erstarrt. Der Mann im Fahrstuhl, das den thematischen Schwerpunkt im Auftrag bildet, ist in Müllers Werk beinahe eine abdriftende Insel und weist tatsächlich auf eine vertikale Ortsveränderung hin, die sich der vorhergehenden Bewegung widersetzt: Die im Monolog eingeführte Umkehrbarkeit zwischen Zeit und Raum ändert vollständig den Sinn der Entscheidung Debuissons für die >Schönheit< und sein Exil; wenn sich Debuisson horizontal entfernt, während die Natur immer mehr verstummt, fordert die zentrifugale zeitliche Beschleunigung des Fahrstuhls im ersten Teil des Monologs die Schwerkraft unmittelbar heraus und schafft eine Zone zeitlicher Trägheit. Das Untertauchen ist eine sequentielle Implosion; die beschleunigte und atemlose Syntax des Sprechens selbst verbindet sich mit dem wahnsinnigen Rasen der Arm-banduhr, bis die Tür aufgeht und sich der Textfluß dann, bei den ersten Schritten der Person durch das peruanische Dorf, verlangsamt und ein neuer Atemrhythmus einsetzt. Dies ist einer der hellsichtigsten Augenblicke in Heiner Müllers Dramatik. Am Endpunkt, der den Abstieg abschließt - uncL auch den langen Satz, als sich die Labyrinth/Tür dieses Fahrstuhls öffnet -, kann man beinahe die Freisetzung einer neuen Energie spüren, die sich bei der Person als ein tiefer Seufzer und als Mitgefühl äußert. Wie der portugiesische Literaturwissenschaftler José Bragança de Miranda (14) äußerst zutreffend feststellt, enthält der Kraftkern, von dem diese Bewegung ausgeht, eine >historische Verheißung<, die sich nicht in der Immanenz dieses Prozesses erfüllen kann und die über die Regenerationsfähigkeit der oberflächlichen Kontinuitäten hinausweist. Heiner Müllers Werk würde auf diese Weise einen >Widerstand< gegen die physikalische Schwerkraft der Bewegung bezeichnen. Von der Flamme und dem Drang diese«: zugrunde gegangenen Geschichte bleibt uns nur ihre >Asche<, ich würde sagen, das Phantom der Rationalität, das zu ihrem Projekt als eine notwendige Illusion gehört, die Debuisson tatsächlich nie verraten hat: >Friedem, Geschäfte, Markt, Welt< sind die Spuren dieser Implosion. Für den Jakobiner Debuisson eine existentielle Wahl in Gestalt des >Himmels der Schönheit< und der >"Maske des Verrats<, rot und feucht wie eine archaische Lust. Doch der Schlüssel dieses Geheintextes, der von Nummer Eins vertraulich mitgeteilt wird, seine als Abwesenheit empfundene Überdeterminierung, kurz, die Lesbarkeit des Auftrags, ist der Messingschlüssel der Parabeln Kafkas, den wir vergebens bewahren wollen, oder: Nach Müllers Worten soll es in der Trägheit dieser Bewegung das gleiche Beharrungsvermögen wie beim umherirrenden Licht der bereits erloschenen Sterne geben, das auch Großmut und Hingabe ist. Aus der Negativität des Drangs, der diese >Geschichte< nährt, das heißt aus ihrer Katastrophe, erscheint die Gegenwart als >die zunehmende Unmöglichkeit des Wirklichen, ein Abschiedsblick von Morgen<. Wenn die Kunst von den Sinnen abhängt, so hat sie mit dem zu tun, was nur ein einziges Mal wirklich ist, um dann für immer möglich und virtuell zu werden. Denn der Körper und die Materialität dieser Geschichte verschwinden spurlos und gestalten ihre Virtualität in jenem anderen verbotenen Bereich, den Uranias Blick erhellen wollte. Man muß ebenfalls jede metaphysische Betrachtungsweise Heiner Müllers ausschließen und sich fragen, was diese >Differenz< bedeutet, dieser ANDERE, der tatsächlich derselbe ist, ein notwendiges Produkt derselben logischen Matrix, desselben Verstandes, derselben Kategorien, denn auf dem Weg zum Antipoden gibt es noch dieses illusorische Relikt in Gestalt einer Lokomotive, wie aus einer Landschaft De Chiricos, deren lineare Funktionalität zur ersten Industrialisierung gehört. Ohne den Körper der Worte ist diese Fähigkeit, unsere Erfahrung zu entziffern, wie bei Hölderlin in der Geschichte verlorengegangen, sie befindet sich immer diesseits, nie jenseits von ihr, und nur in ihr ließe sie sich zurückgewinnen. Die sternenhafte Intensität von Der Auftrag, beinahe ein Gefühl des Verwaistseins, entsteht aus einem >Fading< des Lichts der grorßen Sonnenrevolution, des republikanischen Zenits der Geschichte, dem Epilog ihrer Leidenschaften, der sich als reine Negativität bis in die Gegenwart fortsetzt. Der Text dieser Geschichte, der in den Mäandern der sie nährenden Erinnerung vergessen wurde, ist die leere Mobilität des imaginären Phönix Kants auf dem Boden des Transzendentalen und seiner Bedeutungen, doch seine Machtpotenzen erfüllen sich nicht, man muß auf die Illusion dieses Flugs verzichten, ebenso wie Debuisson auf seinen >Auftrag verzichtet<. Debuisson und die Person des Monologs sind zwei unterschiedliche Momente ein und desselben Verzichts auf diesen phantomhaften Auftrag, der eine weist auf den anderen und auf die Begegnung beider voraus, die Hingabe in der Form einer schrittweisen Entkleidung ist die Geburt eines neuen Körpers: Etwas wie Heiterkeit bereitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein Spaziergang (...) Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Land¬chaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfte meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben. (15)

Angesichts der grasüberwachsenen Lokomotive in einer rauhen Landschaft, an einem Nullpunkt, wo sich die Wirklichkeitin das verwandelt, was sie schon ist, in die Zukunft der Vergangenheit, entsteht aus dieser unerwarteten Begegnung etwas wie Mitgefühl, während der Text innehält, durch den vergessenen Leitfaden einer Aufgabe, die sich verselbständigt, und es mag noch angemessen sein, aus ihrer vagen Erinnerung, vielleicht dem jakobinischen revolutionären Abc in der Karibik, eine Hypothese außerhalb der Linearität dieses Werdens zu formulieren, als hätten wir das Recht, sie in einem Randbereich zu formulieren. Auf welchem Weg befanden wir uns? Welche Aufgabe machte sich erforderlich, in wel-chem Archiv ging jener Leitfaden verloren? Der Spiegel des Antipoden wirft nicht unser Spiegelbild zurück, sondern nur >das Weiße in den Augen< ohne Pupillen, wie der Erzähler feststellt. Müllers Text will die hypothetische Formulierung dieser anderen virtuellen Bewegung sein, deren Bedeutung nicht im sinnlich Wahrnehmbaren gegeben wird, vielmehr stellt sie deren Verlöschen dar. In dieser größten Annäherung, die das Befremden ist, wird der Konflikt nicht gelöst, und auch der Kampf wird nicht bis zum Ende ausgetragen, sondern unterbrochen, und damit weist er voraus auf die Wiedergeburt der Hoffnung. ANMERKUNGEN 1. Fichte. Ausgewählt und vorgestellt von Günter Schulte, Diederichs Verlag, München 1996, S. 493.
2. Rubens Rodrigues Torres Filho, A virtus dormitiva de Kant. In: Ensaios de Filosofia Ilustrada. Brasiliense, São Paulo 1987, S. 25-26.
3. Genia Schulz, Der zersetzte Blick. Schzwang und Blendung bei Hemer Müller. In: Heiner Müller Material, Reclam Verlag.
Leipzig 1985, S. 165.
4. Genia Schulz, Heiner Müller, Metzler Verlag, Stuttgart 1980, S. 169-172.
5. Heiner Müller, Werke 1. Die Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998, S. 14.
6. Alexander Kluge, Es ist ein Irrtum, daß die Toten tot sind. In: Kalkfell für Heiner Müller. Ein Arbeitsbuch. Theater der Zeit, Berlin 1996, S. 145.
7. Walter Benjamin, Gesammelte Werke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., Bd. I 1988,S. 646.
8. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke. In: Dramatik der DDR. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1987, S. 191.
9. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Shakespeare Factory 1, Rotbuch Verlag, Berlin 1989, S. 7.
10. Heiner Müller, Werke 1. Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998 S. 275.
11. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987, S. 288.
12. Heiner Müller, Werke l. Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998, S. 37.
13. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Wissenschaft-liche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1983, S. 40.
14 José Bragança de Miranda, Heiner Müller. Do poder da poesia [Heiner Müller. Von der Macht der Dichtung], 23. August 1996, http://ubista.ubi.pt/miranda/Jbmreflections.html.
15 Heiner Müller, Der Auftrag. In: Heiner Müller, Revolutionsstücke, Reclam Verlage Stuttgart 1995; S. 67-6S.

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Drucksache Neue Folge 6 im Auftrag der Heiner-Müller-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Storch Drucksache N.F. 6, Laymert Garcia dos Santos Laymert Garcia dos Santos: Heiner Müller und der Rhythmus der Zeiten/ José Galisi Filho: Gepanzerter Blick und technologischer Eros bei Heiner Müller/ u.a. p. 60-82. 2001.

DRUCKSACHE N.F.

Im Auftrag der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Storch in Fortführung der von Heiner Müller begründeten, 1993 – 1996 vom Berliner Ensemble herausgegebenen Reihe.

Heiner Müller hatte als Mitglied des Direktoriums und später als künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles die Reihe Drucksache begründet und redigiert. Parallel zur Theaterarbeit, korrespondierend und unabhängig, veröffentlichte er Texte, die ihm wichtig waren als Antwort auf die Entwicklung in Deutschland, in Europa, in der Welt.

Die Internationale Heiner Müller Gesellschaft setzt die Reihe in einer Neuen Folge fort. Sie lädt Philosophen und Künstler ein, jeweils ein neues Heft zu konzipieren, um den von Heiner Müller geführten und eingeforderten Diskurs heute weiterzutragen, um anzuzeigen, was sie in ihrer Arbeit mit Heiner Müller verbindet.

Drucksache N.F. 1 - 6
Richter Verlag GmbH, Düsseldorf

quinta-feira, 27 de outubro de 2011

Obra do Dramaturgo se Rebela contra Superação do Presente (Ilustrada)

São Paulo, sábado, 31 de março de 2001


JOSÉ GALISI FILHO
ESPECIAL PARA A FOLHA, EM HANNOVER

Há dois anos, um colóquio acadêmico no balneário britânico de Bath propunha como tema o "caso" Heiner Müller.
A expressão era ambígua e denotava seu emprego jurídico -como exemplo de um certo "processo" ou "disputa" em que estariam em conflito as várias dimensões de sua obra-, mas não deixava de indicar um certo humor britânico involuntário no sentido de declínio ou "queda", a saber, os motivos pelos quais Heiner Müller quase desaparecera da cena teatral alemã e da mídia que o cortejara como o mais dileto arauto do apocalipse estético.
Por que essa mudança tão radical na avaliação de obra tão impregnada pelo presente? Ela teria se encerrado depois de 40 anos de socialismo e depois de dez anos da queda do Muro?
Alguns críticos acreditam que Müller, como o "autor de passagem" entre as fronteiras dos dois Estados alemães, esteja "superado" historicamente. Sem a gravidade ideológica, suas peças não seriam compreensíveis para um público contemporâneo, ou mesmo irrelevantes.
A questão é que a própria obra de Müller formula, de seu interior, uma concepção dinâmica de "atualidade" que se insurge contra uma idéia de arte tão vulgar, linear e naturalista.
Nas palavras do próprio Müller, em uma carta endereçada ao diretor Martin Linzer a propósito da peça "Der Bau" (A Construção): "Se consideramos esta peça como o reflexo de um "processo de construção", ela não é representável. A distância (atitude) em relação ao material constitui a produtividade do texto. Um texto vive da contradição entre material e autor, entre o autor e a realidade".
Também para o espectador de hoje as escaramuças daquela história prussiana parecem insignificantes. Ou seja: a superfície de um material estético constitui, no que diz respeito ao horizonte de recepção, apenas a primeira camada compreensiva e pode até certo ponto ser negligenciada em seu movimento autônomo.
O "curto circuito" de Heiner Müller e sua recepção envolve, portanto, a própria idéia de presente e atualidade implícita em sua poética. Para Müller, apenas o novo é o motor da legitimidade estética, caso contrário, a arte não passa de um exercício parasitário e autoparódia.
Mas essa noção institucional de "novo", exigida pela própria engrenagem cultural, alimenta o fantasma de uma vanguarda permanente, que se confunde com a própria rotinização do choque pelo mercado. É contra essa falsa superação do presente, embutida nessa motricidade vazia, que a obra de Heiner Müller se rebela, nele arriscando a dissolução/superação de seu próprio sentido.
Se a imagem da longa marcha da tropa de choque da vanguarda já inspirou a retórica de uma comutabilidade sígnica interminável e de um desejo que não encontra forma dentro da história, de fato, são os outros que continuaram marchando e não se sabe ao certo se a tropa de frente chegou ou não ao seu destino.
Heiner Müller sabia que a imagem do movimento incessante não é a da vanguarda histórica, pelo menos, na sua autocompreensão original.
Aquilo que fora a intenção adorniana na hibernação da dialética negativa apresenta-se em Müller como uma "suspensão" da própria estética e do presente na forma de uma dialética congelada, adiando um juízo definitivo sobre sua obra e sobre o gesto negativo de seu Hamlet: "Eu não sou Hamlet".
Somente nesse sentido Müller foi "superado" historicamente.