domingo, 14 de agosto de 2011

Abwärts im Fahrstuhl der Geschichte - Das Ende der deutschen Wohlfahrtsgesellschaft und die Krise der Europäischen Union - Robert Kurz

Robert Kurs Aufsatz zum "Dossier Hartz IV" für Folha und Tropico, Brasilien, erschienen im brasilianischen Internet-Magazin tropico in portugiesischer Sprache im Juli/August 2005 und caderno Mais!, 18.09.2005

Lange Zeit schien es so, als wären die Grenzen zwischen Massenarmut und relativem Massenwohlstand in der Welt klar gezogen. Die Demarkationslinie trennte im wesentlichen den Norden und den Süden des Planeten. Diese Konstellation war allerdings erst ein Produkt der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. In den kapitalistischen Zentren brachte die Mobilisierung der fordistischen Industrien einen beispiellosen Schub von Massenarbeit und Kapitalakkumulation, verbunden mit einem Aufstieg der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Die "Automobilmachung" der Gesellschaft ging einher mit einem stetigen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme (Welfare-Staat), besonders tiefgreifend in Deutschland (West) und teilweise in Frankreich. Sogar im traditionell wirtschaftsliberalen angelsächsischen Raum brachten die Labour-Regierungen in Großbritannien und die "Great Society" von US-Präsident Johnsohn in der Tradition des "New Deal" neue sozialstaatliche Strukturen hervor. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck hat den sozialen Aufstieg in der fordistischen Nachkriegs-Ära als "Fahrstuhl-Effekt" beschrieben: Trotz fortbestehender sozialer Differenzierungen wurde die Gesellschaft insgesamt eine Etage höher gefahren. Die Reallöhne stiegen um ein Vielfaches, während umgekehrt die Arbeitszeit stetig sank; die allgemeine Lebenserwartung erhöhte sich durch verbesserte medizinische Systeme für alle.

Es war diese beispiellose Prosperität des Nordens, die das Paradigma der "Entwicklung" für die Länder des globalen Südens so überaus attraktiv machte. "Entwicklung" bedeutete nichts anderes, als die Perspektive einer nachholenden Modernisierung und Industrialisierung in kapitalistischen Kategorien zum gesellschaftlichen Programm zu machen, um als eigenständige Nationalökonomien am Weltmarkt teilnehmen zu können. Darin kam eine historische Paradoxie zum Ausdruck. Denn während in Südasien und in Afrika noch die letzten Befreiungskriege der Entkolonisierung tobten und sich gleichzeitig auch in den bereits entkolonisierten Ländern nationale Befreiungsbewegungen gegen die ökonomische Abhängigkeit von Westeuropa und den USA formierten, folgte das Paradigma der "Entwicklung" dennoch dem Vorbild der kapitalistischen Zentren. Die ehemaligen Kolonisierten wollten in die gesellschaftlichen Formen der ehemaligen Kolonisatoren hineinwachsen.

Entkolonisierung und ökonomische Unabhängigkeitsbestrebungen waren bestimmt von dem Begehren, selber die fordistische Prosperität und den damit verbundenen Massenkonsum zu erreichen, auch wenn dabei zum Ärger der Weltmacht USA oft staatskapitalistische Mechanismen in Anlehnung an die Sowjetunion bevorzugt wurden. Eine historische Alternative zur Mobilisierung der "abstrakten Arbeit" und des "abstrakten Reichtums", wie Marx die Logik des modernen warenproduzierenden Systems genannt hatte, wurde jedoch nirgendwo in Erwägung gezogen. Während die kapitalistischen Zentren, vor allem die USA, äußerlich das politische Feindbild für die sozialen Bewegungen des Südens abgaben, importierte man gleichzeitig die Strukturen kapitalistischer Reproduktion: die moderne Lohnarbeit und das nur scheinbar egalitäre bürgerliche Geschlechterverhältnis ebenso wie die Muster und Imaginationen des Warenkonsums oder das Modell des Welfare-Staates. Unabhängig von der politischen Orientierung im Kalten Krieg galten die "Wirtschaftswunder" in Japan und vor allem in Deutschland als die heimlichen Vorbilder.

Das goldene Zeitalter der fordistischen Nachkriegsära blieb jedoch für die postkolonialen Länder des Südens eine Fata Morgana. Der Anschluß an Industrialisierung, Massenkonsum und Welfare-Staat gelang nur kurzzeitig und in Kümmerformen. Der Abstand zu den Zentren war schon zu groß, die Vorauskosten der "Entwicklung" erwiesen sich als zu hoch. Das Resultat war eine wachsende Außenverschuldung. Als die mikroelektronische dritte industrielle Revolution den Fordismus ablöste, stiegen die betriebswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der Innovation derart an, dass nicht nur die nationalen Entwicklungsmodelle des Südens zusammenbrachen, sondern auch der staatssozialistische Teil des Nordens nicht mehr mithalten konnte.

Eigentlich hätte diese ruinöse Tendenz zweierlei deutlich machen können: nämlich erstens, dass der Versuch einer Imitation der industriellen, sozialökonomischen und politischen Formen Westeuropas und Nordamerikas für den größeren Teil der Menschheit bereits misslungen war; und zweitens, dass mit dem Ende der Sowjetunion und der DDR die Krise dieser Art von Gesellschaft in den globalen Norden eingedrungen war und auch die Zentren selbst erreichen musste. Stattdessen wurde die Ausbreitung der Krise genau umgekehrt durch die Brille der alten Gegensätze gesehen; es erschien so, als wäre der originäre Kapitalismus der große Sieger der Geschichte und als müssten alle anderen ihre Anstrengungen zur Imitation dieses Vorbilds verdoppeln und verdreifachen. Aus der Sicht der globalen Krisen- und Zusammenbruchsregionen herrschten in den kapitalistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas noch immer die vermeintlich "paradiesischen" Zustände der fordistischen Prosperität, jedenfalls gemessen an der eigenen Misere. Aber das war bereits eine optische Täuschung.

In Wirklichkeit hatte sich die Krise der dritten industriellen Revolution längst tief in den gesellschaftlichen Körper des originären Kapitalismus selbst hineingefressen. Schon seit Anfang der 80er Jahre war die fordistische "Vollbeschäftigung" in eine strukturelle Massenarbeitslosigkeit umgeschlagen. Durch die neuen Potentiale der Rationalisierung erhöhte sich der Sockel dieser Arbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus. Rapider Abbau der Arbeitsplätze und wachsende Unterbeschäftigung bilden aber nur die Kehrseite einer mangelnden Akkumulation des Kapitals, von der letztlich auch der Welfare-Staat abhängt. Die im fordistischen Boom ausgespannten sozialen Netze begannen zu zerreißen; exekutiert durch die neoliberalen Gegenreformen. Es konnte nicht verwundern, dass die USA und Großbritannien dabei mittels "Reaganomics" und "Thatcherismus" die Vorreiter machten; kehrten sie damit doch nur zu ihren marktradikalen Traditionen zurück. In Kontinentaleuropa gingen diese Gegenreformen nicht so leicht über die Bühne; die Wurzeln des Welfare-Staates reichen in Frankreich bis zur Großen Revolution und in Deutschland bis zu Bismarcks Sozialreformen im Wilhelminischen Kaiserreich zurück. Noch in den 90er Jahren wurden das französische und das deutsche sozialstaatliche Modell des so genannten "rheinischen Kapitalismus" als Alternative zur angelsächsischen "neoliberalen Revolution" gehandelt.

Der Krisenprozeß der dritten industriellen Revolution überwindet jedoch spielend alle nationalen, historischen und kulturellen Grenzen. Die allgemeine kapitalistische Logik sitzt tiefer als jedes spezifische politisch-ökonomische "Modell". Gerade der besonders ausgeprägte deutsche Sozialstaat, der für die Ewigkeit gebaut schien, erodierte schon in der Ära des konservativen Kanzlers Helmut Kohl während der 80er und 90er Jahre. In dieser Zeit erfasste die Arbeitslosigkeit vor allem die wenig qualifizierten Schichten, die Menschen ohne Bildung, die ungelernten Fabrikarbeiter. Die Sozialleistungen wurden nur für die untersten sozialen Kategorien der Gesellschaft gekürzt oder gestrichen, also für Menschen ohne Einkommen und ohne Versicherungsverhältnis, für körperlich und geistig Behinderte usw. Vor allem traf es die "allein erziehenden Mütter". Durch den Prozeß der "Individualisierung" (Ulrich Beck) seit den 80er Jahren war bei Teilen der Bevölkerung die bürgerliche Familie auf ein Mutter-Kind-Residuum abgeschmolzen. Die neue Armut war verschämt, in erster Linie weiblich und unsichtbar.

Als 1998 Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder ans Ruder kam, glaubten viele, die neue Regierung würde mit linken Ansprüchen der 68-er-Generation ernst machen und den Sozialabbau stoppen oder sogar teilweise zurücknehmen. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Die rot-grüne Regierung entpuppte sich angesichts immer neuer Rekorde bei den Arbeitslosenzahlen und unter dem Druck der Globalisierung geradezu als Avantgarde verschärfter und tiefer Einschnitte in die Systeme sozialer Sicherung. Ein ganzes Programm von derartigen Maßnahmen wurde unter dem Label "Agenda 2010" zusammengefasst. Das Herzstück bilden die so genannten "Hartz-Reformen", benannt nach dem Ideengeber Peter Hartz, der als Vorsitzender der Reformkommission bekannt wurde wie der berüchtigte "bunte Hund". Mit den Anfang 2005 in Kraft getretenen, als "Hartz IV" bezeichneten Verordnungen wurden die Leistungen der Arbeitslosenversicherung wie in den angelsächsischen Ländern zeitlich drastisch beschränkt und die bislang geltende zweite Stufe der Unterstützung, die immer noch am früheren Einkommen bemessene "Arbeitslosenhilfe", mit dem untersten Niveau der so genannten "Sozialhilfe" auf der Basis eines knapp bemessenen Existenzminimums zusammengeschlossen.

Auf dieses Minimum, in der Vergangenheit nur für eine minoritäre Unterschicht gültig, werden nun Millionen von Menschen zurückgeworfen. Entscheidend aber ist das Novum, dass diese Leistungen nur noch bezahlt werden, wenn die Empfänger vorher ihre eigenen Ersparnisse restlos aufgebraucht haben. Der Durchsetzung dieses Kriteriums dient ein bislang unbekanntes System entwürdigender Kontrolle: Die Betroffenen sind gezwungen, den Behörden ihre persönlichen Verhältnisse rückhaltlos preiszugeben. Es wird sogar verlangt, die Sparbüchsen der Kinder zu öffnen.

Um zu verstehen, was hier geschieht, muß der soziale Hintergrund deutlich gemacht werden. Die Arbeitslosigkeit ergreift in Deutschland wie in den anderen kapitalistischen Zentren immer größere Teile der qualifizierten Schichten: Facharbeiter, Lehrer, Sozialarbeiter, Anwälte, Ärzte, Teile des mittleren Managements. Es ist der Absturz der "neuen Mittelschichten". Der Zusammenbruch der New Economy 2000/2001 und die Auslagerung der Software-Produktion nach Osteuropa, Indien usw. hat auch Computer- und Internet-Spezialisten in den Strudel des sozialen Abstiegs gerissen. Menschen, die noch Ende der 90er Jahre im Zeichen der Finanzblasen-Ökonomie vom schnellen Reichtum träumten, sehen sich plötzlich ausweglos mit der Perspektive der Verarmung konfrontiert. Der Rückgang der Kapitalakkumulation wirkt sich gleichzeitig auf den kulturellen Bereich aus: Journalisten, freie Publizisten, Rundfunkredakteure, Künstler, Buchhändler, Verlagsangestellte und erhebliche Teile des akademischen Mittelbaus verlieren ihre Existenzbasis.

Und gleichzeitig ist die wachsende Arbeitslosigkeit der Mittelschichten nicht mehr sozialstaatlich gepolstert. Die kapitalistische Krisenverwaltung erzwingt den Rückgriff auf alle Rücklagen, Erbschaften usw. bis zum Eigentum an Immobilien. Reihenhäuser müssen versteigert, bessere Wohnungen müssen aufgegeben werden. Der "fordistische Speck" schmilzt ab. Um es drastisch zu sagen: Wie in der Dritten Welt werden immer größere Teile der qualifizierten Schichten und der Intelligentsia sukzessive "afrikanisiert". Prekäre Arbeitsverhältnisse, Elends-Unternehmertum und Elends-Dienstleistungen breiten sich aus. Immer mehr Menschen werden aus Produktion und Kultur in die Sphäre der Zirkulation abgedrängt: Verkaufe irgendetwas oder stirb!, so lautet die Parole.

Zwar gibt es Protest gegen diese Entwicklung, aber ohne allgemeine Solidarisierung. Stattdessen verschärft sich der Konkurrenzkampf um den Status. Die "Hartz-Reformen" sind selber ein Ausdruck davon. Peter Hartz, der spiritus rector dieser Maßnahmen, entwickelte seine Agenda als Personalvorstand der Volkswagen-AG, als Mitglied der sozialdemokratischen Partei und der Industriegewerkschaft Metall. Gerade VW hatte als internationaler Konzern gleichzeitig immer das Modell der "Deutschland-AG" repräsentiert. Dieses Modell stand für eine nationale Integration von Finanzkapital, Gewerkschaften, Massenkonsum und Sozialstaat auf einer Basis, die nicht anders als rassistisch bezeichnet werden kann. Nicht umsonst war VW eine Gründung des Nationalsozialismus Hitlers. Die fordistische Mobilisierung und "Automobilmachung" der Gesellschaft fand hier im Namen der deutschen Volks- und Blutsgemeinschaft statt als rassistisches und antisemitisches Programm. Nach 1945 wurde dieses Modell ökonomisiert und individualisiert, ohne die Gründungsgeschichte kritisch zu verarbeiten.

Hartz ist zum Symbol für die Aufkündigung dieses Modells "von oben" geworden. Das entnationalisierte Finanzkapital verliert die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Integration. Die globalisierte Klasse aller gesellschaftlichen Gruppen einschließlich der Gewerkschaften zieht sich auf Global Players, "Kernbelegschaften", Elite-Universitäten und den Rest der "Besserverdienenden" zurück; die Infrastrukturen werden abgebaut und auf wenige Metropol-Regionen zugeschnitten. Eine schrumpfende Minderheit der Gesellschaft igelt sich sozial ein; wie in den USA und in den städtischen Mammut-Agglomerationen der Dritten Welt entstehen nun auch in einigen Regionen Deutschlands gefährliche "No-Go-Areas" einerseits und Luxus-Ghettos mit privaten Sicherheitsdiensten andererseits, nicht zuletzt in der Hauptstadt Berlin. Nach Auskunft der deutschen Wohlfahrtsverbände hat die Armut innerhalb weniger Monate seit Beginn der Hartz-Reformen ein Ausmaß erreicht, wie es in der jüngeren deutschen Geschichte beispiellos ist. Und diese Armut tritt mehr und mehr aus der Verborgenheit ans Licht: Die Obdachlosen sind längst unübersehbar; es gibt immer mehr verwahrloste Straßenkinder. Und die Armen erkennt man zunehmend an ihrer schlechten Kleidung und an den Zahnlücken, seitdem Zahnbehandlung und Zahnersatz großenteils aus dem Leistungs-Katalog der allgemeinen Krankenversicherung gestrichen wurden.

In Frankreich und in den übrigen Ländern der EU vollziehen sich analoge Prozesse. Deutschland als zentrale Wirtschaftsmacht gibt letztlich den Takt vor, auch beim Niedergang. Die sozialökonomische Misere ist plötzlich zur großen Krise der europäischen Einigung geworden, die noch vor kurzem unwiderstehlich schien. Es sind inzwischen gesellschaftliche Mehrheiten von Verarmten oder von Verarmung Bedrohten, denen die stramm neoliberale EU-Kommission mit ihrer supra-nationalen Bürokratie nur noch als Exekutor der Globalisierung gilt, von der die Wohlfahrt zerstört wird. Mit dem großen "Nein!" bei den Abstimmungen über den Verfassungsentwurf der EU in Frankreich und in den Niederlanden hat sich diese Stimmung Luft gemacht. In Deutschland, wo der Verfassungsentwurf gar nicht erst zur Abstimmung vorgelegt wurde, würde ein Referendum nicht anders ausgehen. Die politische Klasse in der EU jammert über ihr uneinsichtiges "Volk". Aber in Wirklichkeit versuchen die einzelnen Regierungen längst selber, vor den Widersprüchen in den nationalen Korb zurück zu flüchten. Die Erfolge rechtspopulistischer Newcomer färben auf die gesamte politische Klasse ab, die zwischen entfesseltem Weltmarkt, nationalen Ansprüchen und ökonomistischer EU-Bürokratie eingeklemmt ist.

Unten an der gesellschaftlichen Basis zeigt sich in der EU ebenso wie oben in Administration und Politik angesichts der wachsenden Misere ein starker Trend zur Re-Nationalisierung, der sich jedoch an der weltökonomischen Realität bricht. Es gibt kein Zurück zur national integrierten, nach außen abgeschotteten Wohlfahrt. Reaktionäres Denken ist immer zum Scheitern verurteilt, aber zuvor kann es noch großen Schaden anrichten. Das "Nein!" zur neoliberalen Verfassung der EU hatte nichts Befreiendes; es war in erster Linie ein verbissener Rückzug auf nationalistische und rassistische Positionen bis tief in die gesellschaftliche Mitte hinein. Nicht der gemeinsame soziale Widerstand macht sich hier auf den Weg, sondern der Kampf um die Demarkationslinien der sozialen Ausgrenzung.

Erstens will sich die abstürzende qualifizierte Mittelklasse nicht mit den Unterschichten zusammenschließen, sondern wehrt sich dagegen, mit diesen auf eine Stufe gestellt zu werden. Zweitens wendet sich die nationale Armut aller Schichten gegen "Ausländer", Menschen anderer Hautfarbe, Asylbewerber und Migranten. Drittens äußert sich gerade bei den Akademikern und technisch Qualifizierten der soziale Niedergang auch als Krise männlicher Identität, die um sich zu schlagen beginnt; in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen breitet sich ein neuer geschlechtlicher Chauvinismus aus und Mobbing gegen Frauen ist an der Tagesordnung.

In Deutschland spukt Peter Hartz als Schreckgespenst der zwangsweisen Massenverarmung durch die Lande; man kann heute mit diesem Namen den Kindern Angst einjagen wie früher mit dem "schwarzen Mann". Die Pointe besteht allerdings darin, dass Hartz im Juli 2005 zum Mittelpunkt eines Korruptionsskandals bei VW geworden ist, der die Staatsanwaltschaft zu Untersuchungen veranlaßt. Die alte finanzkapitalistische Verfilzung von Banken, Management, politischen Landesfürsten in Niedersachsen, Gewerkschaften und Betriebsratsfürsten des Konzerns hat sich im Prozeß der Globalisierung moralisch zersetzt. Die Rede ist von illegalen Tarnfirmen unter anderem in Indien, an denen auch der Betriebsratschef Volkert beteiligt war, ein intimer Freund von Kanzler Schröder. Offenbar gab es außerdem überhöhte Spesen-Abrechnungen ohne Belege für Gewerkschaftsfunktionäre, denen in Brasilien auf Kosten des Konzerns Edel-Prostituierte zugeführt worden sein sollen, sowie Schmiergelder und andere Unappetitlichkeiten. Hartz musste unehrenhaft zurücktreten. Und schon werden Forderungen laut, die neoliberalen Reformen umzubenennen, damit sie nicht länger mit dem Odium des "Buhmanns der Nation" behaftet seien.

Die alte "Deutschland-AG" wickelt sich in jeder Hinsicht selbst ab, weil sie in der globalen Krise der dritten industriellen Revolution keine ökonomische Grundlage mehr hat. Die Hartz-Reformen und der "Fall VW" stellen nur die Matrix für eine allgemeine Entwicklung dar. Aber das Massenbewusstsein will sich der Realität nicht stellen, sondern sehnt sich zurück nach der D-Mark und in die alten Zustände. Diese ideologische Re-Nationalisierung in der Krise weckt die Dämonen der Vergangenheit. Durch die unwirklich gewordene "Deutschland-AG" schimmert gerade in ihrem Niedergang der Ursprung aus Hitlers Nationalsozialismus durch. Natürlich fährt der Fahrstuhl der Geschichte nicht in die Vergangenheit, sondern abwärts ans Ende aller Modernisierung und aller Prosperität. Die rassistischen und antisemitischen Stimmungen werden nicht mehr staatlich formiert wie in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, sondern erscheinen ebenso fragmentiert und individualisiert wie die neue Armut. Deswegen sind sie aber nicht weniger gefährlich.

In dieser reaktionären statt emanzipatorischen Stimmung gegen den Neoliberalismus werden die Grenzen zwischen links und rechts fließend. Große Teile der politischen Linken schwimmen offen oder verschämt im Sog der ideologischen Re-Nationalisierung mit. Einer linken Abspaltung von der Sozialdemokratie unter dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, die sich mit der in "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) und inzwischen nahezu inhaltslos in "Linkspartei" umbenannten alten Staatspartei der untergegangenen DDR zusammengeschlossen hat, werden von den Demoskopen bei den vorgezogenen Wahlen im Herbst gute Chancen eingeräumt.

Aber man weiß eben nicht genau, wie rechts diese Linken sind. Lafontaine hat mit einer Invektive gegen "Fremdarbeiter" (eine Vokabel aus dem Jargon der Nazis) bereits nach Stimmen aus dem rechten, ausländerfeindlichen Spektrum gefischt. Und laut einer im Juni 2005 vorgestellten soziologischen Untersuchung denken mindestens 20 Prozent der deutschen Gewerkschaftsmitglieder rassistisch, antisemitisch und nationalistisch. Was manche traditionelle Linke als Beginn eines neuen "Klassenkampfs" bezeichnen möchten, ist großenteils nur eine Maske für die Konkurrenzwut der abstürzenden Mittelklasse, für den Neo-Chauvinismus in der Krise männlicher Identität und für den Rückzug in die nationale Nostalgie.

Obwohl diese Zusammenhänge unübersehbar sind, wollen selbst angebliche radikale Kritiker die Augen davor verschließen. Unter Verweis darauf, dass heute alles ganz anders sei, wurde in einer linksradikalen Tageszeitung ausgerechnet eine "Entnazifizierung" der Debatte über die rechten Tendenzen in der Kritik an den Hartz-Reformen gefordert. "Entnazifizierung", das war unter dem Vorwand eines Neuanfangs nach 1945 vielfach die Weißwaschung ehemaliger NS-Kader. Jetzt zielt dieser Terminus auf die Weißwaschung der "sozialen Regungen" gegen den Neoliberalismus von ihrer rassistischen und chauvinistischen Einfärbung, um "unmittelbar" an einen gar nicht vorhandenen sozialen Widerstand anschließen zu wollen. Die banale Wahrheit, dass die Geschichte sich nicht wiederholt, wird dafür instrumentalisiert, die aktuellen reaktionären Tendenzen in der Sozialkritik unter den neuen Krisenbedingungen zu verharmlosen.

Der Niedergang Deutschlands und die Krise der EU müssen aus der Perspektive des globalen Südens ein erschreckendes Bild bieten. Die optische Täuschung einer fortdauernden Welt des Reichtums und der Wohlfahrt löst sich auf. Je mehr die Dritte Welt in der Ersten Welt zu Tage tritt, desto fragwürdiger wird die Orientierung am gesellschaftlichen Muster der kapitalistischen Zentren. Nicht mehr der Norden zeigt dem Süden seine Zukunft der Entwicklung, sondern genau umgekehrt der Süden dem Norden seine Zukunft der Krise. Die moderne Welt der "abstrakten Arbeit" und des "abstrakten Reichtums" als solche steht in der Weltkrise des 21. Jahrhunderts zur Disposition. Eine neue emanzipatorische Perspektive über das moderne warenproduzierende System hinaus kann aber nur gewonnen werden, wenn die überall zu beobachtende Tendenz zu einer ideologischen Re-Nationalisierung radikal kritisiert wird. Der sture Neoliberalismus der globalisierten Klassen einerseits und die nationale Nostalgie der abstürzenden Mittelschichten andererseits bilden keine akzeptable Alternative.

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