segunda-feira, 3 de outubro de 2011

Interview mit dem Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt


Interview mit dem Bundeskanzler a.D.
Helmut Schmidt am 29. Januar 2001 in Hamburg für "Veja"


JOSÉ GALISI FILHO - Was verstehen unter „Raubtierkapitalismus“, der unter den „Psychopathen an der Wall Street“ betrieben wird? Wer sind die Psychopathen an der Wall Street“?



HELMUT SCHMIDT 1:

Mit dem Wort „Raubtierkapitalismus“ habe ich diejenigen gemeint, die als Ratgeber und Arrangeure unfriendly takeovers organisieren, Vorschläge dafür machen, Finanzierungen zustande bringen, ohne Rücksicht darauf, was die Konsequenzen sind - und daran Gebühren verdienen. Wenn ich es richtig sehe, ist ungefähr eine Hälfte aller großen Fusionen (mergers) und aller großen acquisitions letztendlich erfolglos, zum Teil verlustreich. Diejenigen, die mit Vorschlägen an einen Konzern herantreten und ihm sagen: “Hören Sie mal, wir haben einige Ideen für Sie, wie Sie den Konzern XY erwerben können, für Sie persönlich springt dabei auch der und der Vorteil heraus,“ die habe ich gemeint mit dem Schlagwort „Raubtierkapitalismus“.



Es ist geradezu fiebrige Mode geworden im Laufe der letzten 15 Jahre, mergers und acquisitions zu betreiben. Es ist eine neue Branche geworden, teils betrieben von Leuten, die früher Brokerage betrieben haben, Börsenmakler, wie man in Deutschland gesagt hat, teils betrieben von Leuten, die Bankgeschäfte betrieben haben, teils von Leuten, die früher Wirtschaftsberatung gemacht haben.



Heutzutage werden mergers und acquisitions nicht nur von Investmentbanken, sondern durchaus von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und sogar von Anwaltssozietäten betrieben. Alles das ist eine, in meinen Augen, sehr unerfreuliche Entwicklung, und in vielen Fällen steckt dahinter ein krankhaft übersteigerter Trieb nach Macht und nach Bereicherung.

JOSÉ GALISI FILHO - Kann die Politik überhaupt noch gestaltend eingreifen oder diktieren längst die Märkte das Geschehen?

HELMUT SCHMIDT 2:
Die Politik hat früher auch nicht alles kontrollieren können. Das sollte sie auch nicht. Es gibt einige Felder, auf denen die politischen Autoritäten nach wie vor eine große Verfügungsmacht besitzen. Nehmen Sie z.B. die Kontrolle von Monopolen, die Ver-hinderung von Monopolen, Wettbewerbspolitik, Kartellpolitik alter Prägung. Das hat nach wie vor die Autorität der Parlamente und der Regierungen kaum sonderlich beeinträchtigt.

Nehmen Sie als anderes Beispiel ein Feld, wo die Regierung heutzutage sehr viel mehr zu sagen hat als früher, das ist die Schonung der natürlichen Umwelt. Darum haben sich die Regierungen früher kaum gekümmert, die Unternehmen auch nicht, aber jetzt zwingen die Regierungen die Unternehmen zu bestimmten Regeln, nicht in jedem Land der Welt, aber doch immerhin in fast allen Ländern Europas, sogar neuerdings im Osten Mitteleuropas, in den früher kommunistisch regierten Ländern; und es fängt sogar schon in Süd- und Ostasien an. Das ist ein Feld, auf dem die Gewalt der Regierungen zunimmt und deren Aktivität sich verbessert hat.

Doch gibt es ein Feld, in dem im Laufe der letzten 20 oder 30 Jahre die Regierungen an Kontrollmöglichkeiten wesentlich verloren haben, das ist das Feld der internationalen Finanzmärkte. Da geschehen gegenwärtig die schlimmsten Verstöße gegen die Vernunft wie auch gegen die Moral; da geschehen die schlimmsten spekulativen Manöver.

Das ist an sich ein sehr weites Feld mit sehr verschiedenen Aspekten, hier ist weniger die Rede von Kreditmärkten allgemein, als mehr die Rede von kurzfristigen Spekulationen mit Wertpapieren, mit den Aktien, in Währungen und seit 30 Jahren - ganz neuartige Spekulationen - in Derivaten (financial derivatives); die letzteren hat es vor der Beendigung des Regimes fester Wechselkurse fast überhaupt nicht gegeben, aber heutzutage spielen sie eine riesenhafte Rolle.


JOSÉ GALISI FILHO - Der demographische Wandel und die prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt drücken auf den deutschen Sozialstaat, der zudem mit seinem großen Versprechen gescheitert ist, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Im Gegenteil: Die Mechanismen tragen zu einer Verteilungsschieflage zwischen den Generationen bei. Welche Tabus müssen geopfert werden, um den Sozialstaat zukunftstauglich machen zu können?



HELMUT SCHMIDT 3:
Ich glaube nicht, daß man den Sozialstaat als gescheitert ansehen darf. Ich glaube im Gegenteil, daß für die meisten Staaten Europas der heutige Wohlfahrtsstaat eine kulturelle Glanzleistung darstellt.

Allerdings ist insbesondere in den letzten 20 Jahren durch eine Reihe von zusätzlichen sozialen Leistungen die finanzielle Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates überbeansprucht worden, so in Italien, so in Frankreich, so in Deutschland und so in manchen Staaten Europas. Einige der europäischen Staaten haben rechtzeitig einige der Übertreibungen reduziert, z. B. Holland, Dänemark, einige sind im Augenblick dabei, es zu tun, z. B. Deutschland; einige haben das noch vor sich, z. B. Frankreich.


Die Sache wird im Laufe der nächsten 10 Jahre für alle europäischen Staaten dringlich, weil fast überall in Europa eine Überalterung der Gesellschaft stattfindet (übrigens auch in Rußland und in einem gewissen Maße sogar auch in Japan). Während die öffentliche Meinung immer noch glaubt, man könne noch ein Jahr früher in Rente gehen, verschiebt sich inzwischen das Zahlenverhältnis zwischen jungen und alten Leuten in einer Weise, daß immer weniger Menschen im Erwerbsalter immer mehr Rentner ernähren sollen. Das geht auf die Dauer nicht gut.



Aber ich würde nicht sagen, daß der Wohlfahrtsstaat bisher seine Erwartungen nicht erfüllt habe. Ich möchte sagen im Gegenteil, daß es der Masse der Menschen in Staaten wie England, Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Skandinavien, Deutschland etc. niemals früher so gut gegangen ist wie am Ende des 20. Jahrhunderts.

JOSÉ GALISI FILHO - Weltweit hat sich eine Allianz von Globalisierungsgegnern zusammengefunden; jedes Treffen der WTO oder des IWF wird von Massen-protesten begleitet. Die deutsche Bevölkerung selbst hat ein ambivalentes Verhältnis zur Globalisierung. Die Mehrheit glaubt, daß Globalisierung zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Stimmt das?



HELMUT SCHMIDT 4:
Die Allianz der Proteste ist eine sterile Allianz. Sie stehen gegen etwas, aber sie wissen nicht, wofür sie stehen sollen. Sie wenden sich gegen das neue Schlagwort „Globalisierung“, aber es handelt sich in Wirklichkeit nicht um etwas total Neues.

Welthandel und Weltverkehr hat es gegeben seit Marco Polo, seit Venedig und Genua, seit Christovão Colombo, seit der Hanse. Längst bevor dieses neue Schlagwort aufkam, hat es internationale Arbeits-teilung gegeben, z. B. in der Form, daß die einen komplizierte industrielle Produkte an andere verkauft haben, die anderen haben dafür Lebensmittel an die ersten verkauft.

Das ist überhaupt nichts Neues. Wirklich neu ist die Einflußmacht der international agierenden Geld- und Finanzhäuser. Hier handelt es sich um Sachgebiete, welche die öffentliche Meinung kaum durchschauen kann, nicht nur in Deutschland, sondern auch die öffentliche Meinung in anderen Staaten, „Der berühmte Mann auf der Straße“ kann nicht durchschauen, was da eigentlich geschieht. Er liest aber von phantastischen persönlichen Einkommen der Chefmanager, und das ärgert ihn. Das ist verständlich.


In meinen Augen ist das Wichtigste, daß die Bankaufsichtsbehörden, daß die Behörden der Wertpapieraufsicht, daß die Behörden der Versicherungsaufsicht modernisiert werden, und daß es internationale Regeln des Verhaltens gibt, die in diesem Bereich bis jetzt fehlen. Wir haben internationale Regeln im Seeverkehr seit die Segelschiffe die Welt umrunden und später, als die Dampfer kamen, Lichterführungsregeln und Lotsenzwang in bestimmten Revieren; seit es Luftverkehr gibt, gibt es Luftverkehrsregeln, kein Flugzeug kann in Frankfurt starten, um in London zu landen, wenn nicht im Vorwege ein slot für die Landung in Heathrow zur Verfügung steht. Es geht alles nach Regeln. Doch der internationale Finanzverkehr richtet sich weitgehend nicht nach international geltenden Regeln, weil es diese bisher nicht gibt. Es wird Zeit, daß die wichtigsten Staaten der Welt, die finanz-kräftigsten Volkswirtschaften, sich zu einem gemeinsamen Regelwerk zusammentun, das sie dann in ihren jeweiligen Staaten als Gesetzesnorm heraus-geben.



JOSÉ GALISI FILHO - Hat die Bundesregierung die Herausforderung der Globalisierung überhaupt verstanden, oder gibt es schon umgekehrt viele Hinweise, daß Deutschland in einigen Bereichen eher auf der Verliererseite steht?

HELMUT SCHMIDT 5:
Ich glaube nicht, daß Deutschland auf der Verliererseite steht. Vielleicht in einigen Bereichen, aber dafür stehen wir in anderen Bereichen auf der Gewinnerseite.

Was heute Globalisierung genannt wird, war bereits ganz deutlich in der Mitte der 70er Jahre zu spüren. Das „Bretton Woods System“ der festen Wechsel-kurse brach am Anfang der 70er Jahre zusammen; ganz schnell darauf gab es die erste große weltwirtschaftliche Krise in Gestalt der von der Opec verursachten beiden Ölpreisschocks 1974/75 und nochmals 1979/80.



Mindestens seit damals haben die intelligenten Politiker begriffen, daß sie die Wirtschaft ihres eigenen Landes nicht unabhängig von Entwicklungen der Weltwirtschaft steuern können. Das hat damals 1975 zur erstmaligen Begründung der sogenannten Weltwirtschaftsgipfeltreffen geführt. Mindestens seitdem kann ein intelligenter Politiker Bescheid wissen. Nicht alle sind intelligent.




JOSÉ GALISI FILHO - Die vermeintliche Keynesianische Theorie des deficit spending zeigt sich heute machtlos, die massive Arbeitslosigkeit in Europa zu stoppen. Welche anderen Rezepte sind denn dann notwendig?

HELMUT SCHMIDT 6:
Die deficit spending-Politik war von Keynes vorgeschlagen für eine deflationistische Rezession. Keynes war ein viel zu kluger Mann um zu glauben, daß man in jedweder anderen Situation etwa mit hohen Staatsdefiziten diese Wirtschaftspolitik machen sollte. Das war ein Mißverständnis, verursacht durch viele Politiker in manchen Staaten.

Die Massenarbeitslosigkeit in Europa ist bisher nur zu einem ganz kleinen Teil die Konsequenz weltweiter Konkurrenz, sie ist überwiegend die Konsequenz aus staatlicher Überregulierung, z. B. des Arbeitsmarktes, z. B. des Agrarmarktes; wir haben viel zu viele Vor-schriften, allein die Europäische Union hat bisher 80.000 Paragraphen. Das ist eines der schwersten Hemmnisse für eine dynamische Entwicklung; dazu spielen die wohlfahrtsstaatlichen Übertreibungen eine Rolle.



Das alles schließt nicht aus, daß weltweiter Wettbewerb auch zur Arbeitslosigkeit führt. Ich kann eine Reihe Beispiele geben: Wir hatten früher in Deutschland eine blühende Kameraindustrie, die ist durch sehr viel billigere Konkurrenz aus Japan und Korea verschwunden. Wir hatten früher einen riesenhaften Kohlebergbau in Deutschland, aber diese Kohle in Deutschland liegt tief, ist teuer, und sie ist nicht wettbewerbsfähig mit der Kohle aus Australien, trotz der langen Transportstrecke, die überwunden werden muß; und sie ist nicht konkurrenzfähig gegenüber der nuklearen Energie der Kernkraft. Dadurch werden Arbeitsplätze frei. Ähnlich in der Textilindustrie, in der Schuhindustrie, im Schiffbau und in anderen Industrien.



Der entscheidende Punkt ist, daß der sehr hohe Lohnstandard und der hohe Sozialstandard der Europäer natürlich zu sehr hohen Produktionskosten führen im Vergleich zu Ländern, die ganz niedrige Löhne zahlen, ganz niedrigen Sozialstandard haben und infolgedessen, wenn ihr Produkt gleich gut ist wie das, was aus Frankreich oder Deutschland kommt, zu niedrigeren Preisen anbieten können.



Infolgedessen gibt es für die Europäer - und das gilt nicht nur für die Deutschen oder für die Franzosen - nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen sich die Europäer damit abfinden, daß ihre Löhne in der Zukunft relativ zurückbleiben, und daß ihre Sozial-standards sich ermäßigen, oder - das ist die entscheidende wichtige Option - sie müssen sich befähigen, Produkte zu erzeugen, die einstweilen irgendwo in Asien, oder irgendwo in Afrika, oder irgendwo in Südamerika noch nicht produziert werden können. Dazu müssen sie neue Erfindungen machen und neue Entwicklungen! Aber das geht nur, wenn sie vorher wissenschaftliche Forschung betrieben haben. Der Vorsprung im Lebensstandard der Amerikaner und der Europäer beruht auf dem wissenschaftlich-technologischen Vorsprung. Wenn sie diesen wissen-schaftlich technologischen Vorsprung nicht aufrechterhalten können, dann können sie auch nicht den Vorsprung in ihrem Lebensstandard halten.

JOSÉ GALISI FILHO - In einer gemeinsamen Arbeit mit Ihrem Freund und französischen Präsidenten Giscard d’Estaing haben Sie in der Mitte der 70er Jahre die Grundlagen des Europäischen Währungssystems errichtet. Sie sollen in den nächsten Monaten mithelfen in den Medien, den zweifelnden Deutschen die Vorzüge der europäischen Währung zu vermitteln und sie vernünftig zu engagieren. Was sind Ihre Erwartungen in dieser Aufgabe?



HELMUT SCHMIDT 7:
Ich habe gar keinen Zweifel, daß die gemeinsame Eurowährung im Laufe weniger Jahre zu einer weltweit anerkannten Währung geworden sein wird. In 30 Jahren wird es drei große Währungen in der Welt geben: den amerikanischen Dollar, den europäischen Euro und die chinesische Währung Renminbi. Gegenwärtig gibt es in vielen europäischen Ländern eine gewisse Skepsis in der öffentlichen Meinung gegenüber dem Euro, aber im Augenblick, in dem die Leute zum ersten Mal ihre Zigaretten oder ihren Kaffee oder ihre Miete anstatt in Francs oder in Gulden oder in DM, in Euro zahlen müssen, werden sich die meisten sehr schnell daran gewöhnen. Ich habe da keine Bedenken.

JOSÉ GALISI FILHO - Sie haben einst den Vertrag von Maastricht als einen der „miserabelsten internationalen Verträge, die ich je gelesen haben“ bezeichnet. Ihr jüngstes Buch heißt programmatisch „Die Selbstbehauptung Europas“ (DVA, 2000), eine „patriotische“ Ver-teidigung eines „geistigen“ Europas in der Tradition der Aufklärung, der deutschen und französischen Aufklärung. Welche Gefährdungen also sehen Sie für die nähere Zukunft Europas?



HELMUT SCHMIDT 8:
Die Gefährdungen für Europa resultieren im wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen überaltern und schrumpfen zahlenmäßig die europäischen Völker derzeit; gleichzeitig vermehrt sich aber die Weltbevölkerung in nahezu explosiver Weise. Diese Explosion begann im wesentlichen gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, sie setzt sich im 21. Jahrhundert fort. Am Anfang des 20. Jahrhunderts lebten auf der Welt 1,5 Milliarden Menschen, in der Mitte des 21. Jahrhunderts werden sechsmal soviel Menschen auf der Welt leben wie im Jahr 1901. Heute sind es bereits viermal soviel Menschen wie im Jahr 1901.



Das führt in vielen Teilen der Welt zu Konflikten. So
z. B. in Ruanda, Burundi, im Kongo, in Westafrika, in schlecht regierten Staaten Lateinamerikas oder in Südostasien; die Konflikte und Kriege führen zu Wanderungsströmen, Flüchtlingsströmen in Richtung Nordamerika und Europa. Die Nordamerikaner werden sich dagegen relativ leicht abschotten können, insbesondere gegen die Mexikaner. Die Europäer werden es dagegen sehr schwer haben.



Die andere große Gefahr sind die vorhersehbaren Konsequenzen der Erwärmung der Welt, die gegenwärtig in Gang ist. Die Erwärmung wird von keinem Wissenschaftler mehr bezweifelt, sie ist aber hin-sichtlich des Tempos ungewiß. Die Wissenschaftler schwanken in ihren Prognosen zwischen plus 1,5º C und bis zu neuerdings plus 6º C im Laufe von nur 100 Jahren. Selbst bei lediglich 1,5 º C Zunahme führt es dazu, daß hunderte von Millionen Menschen ihre Wohnstätten verlassen müssen z. B. in den Deltas der großen Flüsse in Asien, in Afrika, in Lateinamerika; denken Sie z.B. an Bangladesh. Infolgedessen verstärkt sich von daher nochmals die Knappheit an Raum zum Leben, zur Ernährung und zur Arbeit, und infolgedessen verstärkt sich von daher die Tendenz zu Massenwanderungen.



Es ist unklar, wie weit die gegenwärtige Erwärmung ein natürliches Phänomen ist. Wir haben früher auch schon mal Eiszeiten und Warmzeiten gehabt - ohne eine menschliche Industrie und ohne Automobile, ohne Kohleverbrauch. Wir wissen noch nicht, inwieweit andererseits die Erwärmung auf die Emission von Kohlendioxyd und andere greenhouse Gase zurückgeht. Sicher ist nur, daß die greenhouse Gase eine Rolle spielen. Wie groß ihr Effekt ist, wissen wir noch nicht. Alle Regierungen wollen die Emissionen jedenfalls theoretisch verringern.

Daraus entstehen Probleme für die europäischen Staaten. Das sind alles kleine Staaten. Wenn man von Rußland absieht, sind es alles Staaten von ein paar bis zu maximal 80 Millionen Menschen, im Vergleich zu Brasilien, Indien, China und USA sind sie sehr klein. Die Großmächte des 21. Jahrhunderts sind USA, China, vielleicht Indien, und vielleicht Brasilien. Diese Großmächte werden versuchen, alle Einschränkungen auf die Europäer abzuwälzen. Die Europäer werden sich dagegen nur in angemessener Weise wehren können, wenn sie das gemeinsam tun. Das gleiche gilt auch für die Zuwanderung nach Europa.

Es gibt also Gefährdungen, die teils von außen kommen und teils damit zusammenhängen, daß die Europäer selber weniger Kinder in die Welt setzen als noch vor ein oder zwei Generationen, folglich eine Überalterung der Europäer. Alles das zusammengefaßt, ergeben sich für die europäischen Völker im 21. Jahrhundert erhebliche Herausforderungen. Sie werden deshalb einer nach außen handlungsfähigen „Europäische Nation“ bedürfen.



JOSÉ GALISI FILHO - Wo liegen eigentlich die Grenzen des „Gemeinsamen Europäischen Hauses?“ Warum sollten nicht die Türkei oder Rußland mitmachen?

HELMUT SCHMIDT 9:
Warum nicht gleich China oder Venezuela? Schon die Türkei oder Rußland wären Fehlgriffe. Rußland hat - anders als die meisten europäischen Nationen - nie eine Aufklärung erlebt. Rußland kennt keine politische Kultur der Demokratie und des Rechts-staates, keine ökonomische Kultur des Marktes, keine sozialökonomische Kultur des privaten Eigentums. Alles das soll sich jetzt entwickeln; aber es bleibt eine offene Frage, ob es gelingt und wie viele Jahrzehnte es benötigen wird.

Ähnliches gilt für die Türkei. Ganz abgesehen davon, daß die Türkei mit ihren außenpolitischen und ihren sicherheitspolitischen Interessen beteiligt ist an allen Verwicklungen im Mittleren Osten und in Zentral-Asien. Ich sehe übrigens nicht, wie morgen in der Türkei das Problem des Kampfes zwischen den Türken und Kurden gelöst werden kann; wir erleben hier in Hamburg, daß sich Türken und Kurden gegenseitig gewalttätig bekämpfen, das gleiche findet in der Türkei statt. Ich würde es für einen Fehler halten, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen.

JOSÉ GALISI FILHO - Entscheidend sei für diese Selbstbehauptung Europas „ein Prinzip der vollen Handlungsfähigkeit nach außen“. Die amerikanische Intervention bedroht dieses Prinzip im Fall Kosovo.


HELMUT SCHMIDT 10:
Die USA und die NATO haben im Kosovo militärisch eingegriffen, ohne durch den Sicherheitsrat der UN dazu legitimiert gewesen zu sein; der militärische Angriff des Westens gegen den souveränen Staat Bundesrepublik Jugoslawien war also ein Verstoß gegen die Charta der UN. Das ist möglicherweise für die Zukunft ein wichtiges Präjudiz, eine Intervention aus Gründen der Menschlichkeit, aber ein Verstoß gegen die Charta der UN. Wie sich dies in der Zukunft bei weiteren Vorkommnissen entwickelt, wie man sie in Afrika, in Somalia, in Äthiopien, im Kongo, in Sierra Leone, auch in Indonesien erlebt hat, das ist gegenwärtig eine sehr schwer vorherzusehende Frage. Ich hoffe, daß die UN und ihre Charta für die Zukunft unangetastet bleiben.



JOSÉ GALISI FILHO - Bisher kommt die Reform des internationalen Finanzsystems nur schleppend voran. Sie halten den IWF schlicht für überflüssig. In den 90er Jahren hat der Fonds etwa Brasilien, Mexiko, Rußland und Südostasien empfohlen, Kapitalverkehrskontrollen auch für kurzfristige Finanzaktionen aufzuheben. Dadurch sind binnen kurzem große Mengen privaten Kapitals zu spekulativen Zwecken in diese Länder geströmt - und ebenso kurzfristig wieder abgezogen worden. Welche Reformen in dem IWF sollen unter-nommen werden? Wäre es nicht einfacher, den Ent-wicklungsländern mehr Stimmrecht zu geben?



HELMUT SCHMIDT 11:
Zunächst einmal ist es notwendig, eine klare Aufgabentrennung herbeizuführen zwischen der Weltbank und dem Weltwährungsfonds. Gegenwärtig gibt es keine klare Aufgabentrennung; der Welt-währungsfonds mischt sich am laufenden Band in die Entwicklungspolitik ein, und die Weltbank mischt sich am laufenden Band in Aufgaben des IWF ein. Beide handeln im Interesse der Erhaltung oder sogar der Erweiterung der Macht der eigenen Organisation. Das gilt für die Weltbank, das gilt auch für den Währungsfonds; das gilt auch für das Generalsekretariat der Vereinten Nationen. Es fehlt an demokratischer Kontrolle, an Transparenz. Es bedarf gründlicher Reform und einer Begrenzung der Aufgaben dieser Organisationen.

JOSÉ GALISI FILHO - „Wir sind noch kein normales Volk“, behaupteten Sie am Anfang der 90er Jahre. Ist die Normalität beider Teile Deutschlands schon erreicht worden?



HELMUT SCHMIDT 12:
Wir sind sieben Jahre weiter, wir sind im Normalisierungsprozeß vorangekommen. Insgesamt haben wir aber leider nach wie vor einen Unterschied zu verzeichnen, was die ökonomische Situation angeht. Die ökonomische Situation in dem ehemals kommunistischen Teil in der ehemaligen DDR ist gekennzeichnet durch eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie in der ehemaligen alten Bundesrepublik. Daraus ergibt sich, daß wir noch eine ganze Reihe von Jahren vor uns haben, bis wir uns gegenseitig ökonomisch vollständig amalgamiert haben werden. Gleichzeitig gibt es psychologische Unterschiede. Auch die werden sich im Laufe der Zeit abflachen, aber es dauert Zeit. Es dauert viel mehr Zeit, als sich einige vor elf Jahren vorgestellt haben.




JOSÉ GALISI FILHO - Bei keinem anderen Politiker der jüngsten Geschichte der BRD ist das Verhältnis zu Amerika so leidenschaftlich, so kritisch und so komplex wie bei Ihnen, auch aus persönlichen Gründen. Können Sie uns ein bißchen über dieses persönliche Verhältnis zu Amerika erzählen? Wer war der amerikanische Politiker, der Sie am meisten beeindruckt hat?

HELMUT SCHMIDT 13:
Amerika hat ganz große Vorzüge. Eine ganze Reihe von Amerikanern hat mich sehr beeindruckt.

JOSÉ GALISI FILHO - Henry Kissinger?

HELMUT SCHMIDT 14:
Zum Beispiel Henry Kissinger, George Shultz gehört dazu. Z. B. Arthur Burns, der war der Vorgänger von Paul Volcker, dieser war der Vorgänger von Alan Greenspan. Das sind alles Leute, die ich außer-ordentlich hoch schätze und respektiert habe. Eine große Anzahl von weiteren Amerikanern gehört dazu.

Aber ich sehe auch, daß es heutzutage nicht mehr wie früher sehr viele amerikanische Politiker gibt, die sich ausreichend für Probleme außerhalb der USA interessieren oder engagieren. Die politische Klasse Amerikas versteht heute weniger von der Welt als die politische Klasse Amerikas vor 20 Jahren. Sie ist weniger interessiert. Einige prahlen sogar, daß sie keinen Paß brauchen, weil sie nie ins Ausland reisen. Sie verstehen sehr wenig von China, immerhin ein Land, das fünfmal soviel Menschen wie die USA hat; sie verstehen sehr wenig von Indien, immerhin ein Land, das beinahe viermal soviel Menschen wie die USA hat; sie verstehen leider nicht genug von Rußland; sie verstehen nicht genug von der Masse aller Entwicklungsländer, ob in Asien oder Afrika oder in Lateinamerika. Aber sie urteilen sehr schnell über alle diese Länder und meinen, was in Amerika funktioniert hat, das müsse auch in Rußland und woanders funktionieren. Darin liegt eine gewisse Gefahr.

Es gibt heute eine gewisse Tendenz in Amerika zur Überheblichkeit im Urteil über den Rest der Welt. Das wird wahrscheinlich noch eine Reihe von Jahren so bleiben, möglicherweise sogar noch Jahrzehnte. Aber im Laufe des 21. Jahrhunderts werden selbst die Amerikaner begreifen, daß China eine Weltmacht ist, daß Rußland eine Weltmacht geblieben ist, daß möglicherweise Indien auch eine Weltmacht wird, und möglicherweise auch Brasilien.

JOSÉ GALISI FILHO - Welche Erwartungen haben Sie auf das neue Präsidentenamt in Amerika?

HELMUT SCHMIDT 15:
George W. Bush ist ein junger Mann mit keinen großen außenpolitischen Erfahrungen. Ich habe keine besonderen positiven und keine besonderen negativen Erwartungen.

JOSÉ GALISI FILHO - Wohin steuert Rußland?

HELMUT SCHMIDT 16:
Diese Frage müssen Sie an Herrn Putin richten.

JOSÉ GALISI FILHO - Halten Sie es für realistisch, daß die EU mit dem Mercosur eine Freihandelszone bis 2005 errichten kann?

HELMUT SCHMIDT 17:
Das kann ich nicht beurteilen. Im Prinzip bin ich skeptisch gegenüber der Einrichtung der Freihandelszonen. Aber Sie reden mit einem Hamburger, die Hamburger haben seit Jahrhunderten mit Südamerika Handel betrieben, wir haben dazu keine Freihandelszone gebraucht. Von uns aus gesehen brauchen wir sie auch morgen nicht. Gleichwohl kann ein Vorteil für beide Seiten darin liegen. Aber ich halte dies nicht für eines der dringenden Probleme der EU.


JOSÉ GALISI FILHO - Wenn Ihre Prognosen stimmen, hat Brasilien eine große Chance, eine Weltmacht dieses Jahrhunderts zu werden. Als Präsident Geisel die BRD 1975 besucht hat, wollte Brasilien eine Weltmacht noch in diesem Jahrhundert sein, oder zumindest gab es ein strategisches militärisches Denken in inneren Kreisen der Macht. Es gab sogar ein Programm für die Entwicklung von Atomwaffen. Berühmt war damals das Buch von General Golbery, ein enger Freund von Geisel: “Geopolitik Brasiliens“. Geopolitik Brasilien ist die Bibel unseres manifest destiny. Die Zukunft war für uns aber die zweite Ölpreis-Explosion, die Rezession, die Inflation. Wie unterscheiden Sie das Brasilien von Geisel und FHC? Worin liegt Ihr Optimismus begründet?


HELMUT SCHMIDT 18:
Wenn ich von Weltmächten spreche, so habe ich das nie allein auf die militärische Kapazität dieser Länder gemünzt, sondern in meinen Augen beruht eine Weltmacht auf mehreren Komponenten; das Militärische ist eine, die ökonomische Leistungsfähigkeit ist eine andere, die soziale Gesundheit eine dritte Komponente; die innere Freiheit von Konflikten spielt eine Rolle; das Territorium spielt eine Rolle. Rußland ist allein wegen seines riesenhaften Territoriums eine Weltmacht, ob es uns paßt oder nicht. Außerdem auch noch wegen seiner über 10000 nuklearen Waffen.


Brasilien braucht keine nuklearen Waffen. Aber ich schließe nicht aus, daß eines Tages die Brasilianer ihre eigenen Nuklearwaffen herstellen; das halte ich für denkbar, aber nicht für wünschenswert. Wir haben heute acht Staaten mit nuklearen Waffen; es war einmal ein einziger! Dann wurden es zwei, dann wurden es fünf, jetzt sind es acht. Es spricht alles dagegen anzunehmen, daß es bei acht aufhört. Südafrika war drauf und dran, sich nuklear zu bewaffnen, man hat aber die Zielsetzung aufgegeben.

Mein Optimismus in bezug auf Brasilien gründet sich auf den ungeheuren Reichtum an Bodenschätzen und auf die landwirtschaftliche Produktionsfähigkeit des Landes, auf die Vitalität einer im Durchschnitt sehr jugendlichen Gesamtbevölkerung. Für Brasilien wird entscheidend sein, ob es gelingt, die hohen Entwicklungsstände in der Küstenregion von São Paulo und Rio de Janeiro auszuweiten in die großen Hinter-landprovinzen.



Gegenwärtig ist der Unterschied im Lebensstandard zwischen der brasilianischen Küstenregion und den Hinterlandprovinzen genauso groß wie in China zwischen Schanghai auf der einen und Sichuan auf der anderen Seite. Wenn China diese Probleme im Laufe von Jahrzehnten überwinden kann, dann wird das die Rolle Chinas in der Welt ganz gewaltig steigen lassen. Wenn Brasilien diese Probleme lösen kann, dann wird die Rolle Brasiliens mindestens im Süden der westlichen Hemisphäre gewaltig an-steigen.

Es ist eine Aufgabe ihrer politischen Klasse, ihrer unternehmerischen Klasse, eine Frage der Entwicklung.

JOSÉ GALISI FILHO - Haben Sie das Buch von dem ehemaligen Kanzler Kohl gelesen?

HELMUT SCHMIDT 19
Nein.

JOSÉ GALISI FILHO - Was haben die Deutschen aus diesem Skandal gelernt?

HELMUT SCHMIDT 20
Fast gar nichts.

JOSÉ GALISI FILHO - Sie haben einst dem Präsidenten Sarney in Schanghai erzählt, daß man sein politisches Schicksal nicht auswählen kann. Die Wieder-vereinigung Deutschlands war der Stern von dem Kanzler Kohl. Mogadischu war Ihr Schicksal in der tragischen Vermischung von „Versäumnis und Schuld“. Gehört zu Ihrer inneren Auffassung der Politik als Beruf diese Mischung?

HELMUT SCHMIDT 21:
Was man als Schicksal bezeichnen kann, lasse ich offen. Man kann sich die Probleme, mit denen man zu tun hat als Vater einer Familie, oder als Bürgermeister einer Stadt, oder als Präsident einer Gewerkschaft, oder als Chef einer Regierung nicht aussuchen. Wenn jemand an der Spitze eines Staates seine Probleme aussucht und die Probleme, die unangenehm sind, beiseite schiebt, dann wird er seiner Aufgabe nicht gerecht, er wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Aber im Grunde haben Sie Recht. Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.

Herr Schmidt, vielen Dank für dieses Gespräch.

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