terça-feira, 10 de janeiro de 2012

Das brasilianische Projekt - Das Anthropophagische Manifest als „synthetisches Fragment“ - ARCH+ 190 Zeitschrift für Architektur und Städtebau Dezember 2008: Stadtarchitektur São Paulo Ausblick auf ein soziales Raumkonzept



Das brasilianische Projekt - Das Anthropophagische Manifest als „synthetisches Fragment“

José Galisi Filho

1924 veröffentlichte Oswald de Andrade sein „Brasilholz-Manifest" (1), das die Grundlage für sein berühmtes „Anthropophagisches Manifest" von 1928 bildete. Dieses wurde in der Folge zum zentralen Gemeinplatz und letztlich zum Dilemma der brasilianischen Kultur. Der Text bringt die asynchronen Bestandteile der brasilianischen Gesellschaft miteinander in Verbindung und stellt in einer antidiskursiven, elliptischen Sprache mit kurzen, direkten Sätzen ohne explizite Verknüpfung die Frage, was die Identität der brasilianischen Nation sein soll.



Faksimile des Buches von Hans Staden, der als erster 16. Jahrhundert die kannibalischen Praktiken brasilianischer Indianer beschrieben hat.

Oswaldo de Andrade (1890-1954) stammte aus einer traditionsreichen und wohlhabenden Familie der Aristokratie des Kaffees, die in dieser Frühphase der Industrialisierung der Stadt eine der moderne zugewandte Haltung vertrat. Sein Werk ist daher auch eine erhellendes Zeugnis für die tiefen sozialen Veränderungen der städtischen brasilianischen Gesellschaft, die sich zu dieser Zeit aus ihren ursprünglichen kolonialen Traditionen zu lösen begann und in der sich erste Ansätze eines eigenständigen Bürgertums entwickelten.
In diesem Kontext war das „Brasil-holz-Manifest" von Oswald de Andrade de der Versuch einer Neuausrichtung der kolonial geprägten Kultur, die bis dahin als mangelhaftes Imitat erschienen war. Zunächst ging es ihm darum, das brasilianische Portugiesisch von dem Vorwurf befreien, es sei syntaktisch und grammatikalisch „fehlerhaftes" Portugiesisch woraus ein lokaler Minderwertigkeitskomplex entstanden war. Dem Manifest zufolge sollte gerade die Summierung dieser „Fehler"(2) diesen Komplex beseitigen helfen. Die ursprüngliche Sprache der Kolonisatoren sah Andrade durch die Akzente und Mischungen der Ethnien Brasiliens nicht entstellt, sondern vielmehr bereichert.Auf diesem neuen Selbstbewusstsein sollte eine neue Nationalität aufbauen.
Auf dem Höhepunkt der avantgardistischen Bewegungen in Europa plädierte Andrade für einen quasi „ontologischen" (3) Nationalismus durch die buchstäbliche „Einverleibung des Anderen". Er schlug vor, das Externe zu verschlingen und zu verinnerlichen, um es anschließend verändert und verwandelt wieder zu veräußerlichen. In seinem „Anthropophagischen Manifest" von 1928 zeigte sich dieser radikale Impuls als eine unmögliche Identität zweier Welten: „Tupi or not Tupi, that is the question." (4) Der Versuch, die örtliche, indigene Kultur mit den neuen internationalen Avantgarden, insbesondere dem Kubismus und dem Surrealismus, konvergieren zu lassen, führte Oswald de Andrade zu einer positiven Bewertung der ethnischen Vermischung und suchte Brasilien dadurch von seinem Minderwertigkeitskomplex zu befreien.
Als polemisch-performative Metapher steht die Anthropophagie für eine spielerische und selbstbewusste Form der Kulturaneignung. Die provokative Einverleibung soll die Verbindung von scheinbar Unvereinbarem ermöglichen und nicht weniger als einen Befreiungsschlag aus postkolonialen Machtkonstellationen mit sich bringen. Die eigenständige brasilianische Kultur sollte sich für Andrade gerade in pulsierender Bewegung zeigen, die die Antagonismen von außen und innen, ausländisch und national, Modell und Kopie zerstören sollte. Auf diesem Wege wurde auch der romantischen Suche nach dem verlorenen Paradies, der Reinheit der Eingeborenen und dem Postkartenmodell natürlicher Schönheit der Kampf angesagt.
Der damit kritisierte Mythos vom „edlen Wilden" entstand zur Zeit der Aufklärung unter dem Einfluss der Naturverherrlichung Rousseaus. Die Idealisierung der Naturvölker und der außereuropäischen Hochkulturen geschah unter einer moralischen Perspektive: der „weiße Mann" sollte sie sich nun sogar zum Vorbild nehmen. Daraus entwickelte sich eine merkwürdige umgekehrte europäische Ideologie, in der die Unterjochten und Gequälten plötzlich als die besseren Menschen galten, gerade weil sie unterentwickelt waren. Je weiter das koloniale Zeitalter zurückliegt, je stummer die ungezählten Opfer der Vergangenheit werden, desto mehr scheint sich heute diese Indianer-Romantik im europäischen Bewusstsein wieder auszubreiten.
Oswald de Andrade kehrte diese Vorstellung wieder um: Für ihn schließt sich der voranschreitende technische Fortschritt zum Kreis und führt geradewegs ins indigene „Matriarchat von Pindorama" zurück. Indem wir zum Ursprung Brasiliens und der modernen Utopie in Europa zurückkehren, gelangen wir in die Zukunft. Damit erschien Brasilien den Modernisten als das Land der Utopie par excellence, sofern es sich durch die Industrialisierung modernisieren würde.
In den 20er Jahren erschien es notwendig, eine einheitliche brasilianische Identität - im Kontrast zur europäischen - zu behaupten, um in die Moderne einzutreten. Das Paradoxe dieser Formel sollte die brasilianische Kultur in den folgenden Jahrzehnten vor eine Reihe von schier ausweglosen Problemen stellen. Was auf dem Höhepunkt der europäischen Avantgarden unter dem Zeichen der Negativität entstand, wurde zum zentralen Gemeinplatz und Dilemma der brasilianischen Kultur, fast ein zivilisatorischer Komplex. Denn das Anthropophagische Manifest war schließlich die Radikalisierung des zivilisatorischen Unbehagens der Eliten. In ihm war die Idee enthalten, dass der brasilianische Intellekt sich durch die Imitation der europäischen Kultur, durch die Übernahme ausländischer Werte, die Verwendung der portugiesischen Sprache, ihrer Syntax und Prosodie von der eigenen kulturellen Identität entfernt habe. Man glaubte an die Möglichkeit, eine starre Grenze zwischen sich und den anderen errichten zu können, um eine ursprüngliche Kultur aufzubauen. Man wollte also eine neue Nation konstruieren, die durch eine autochthone Kultur repräsentiert würde. Der Gründungsmythos Brasiliens sollte sich so auf einer anderen Ebene wiederholen - als eine Rückkehr zur Stunde Null der Geschichte des Landes.

Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus der Dissertation zum Begriff des ästhetischen Materials in Heiner Müllers Poetik", diie José Galisi Filho (geb. 1962 in São Paulo) 2003 an der Universität Hannover eingereicht hat.http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=968658385

(1) Oswald de Andrade: Brasilholz-Manifest (Manifesto da Poesia Pau-Brasil), in: Entre Pindorama, hrsg. von Elke aus dem Moore, Giorgio Ronna (Künstlerhaus Stuttgart), Nürnberg 2005.
(2) Ebd.
(3) Vgl. Haroldo de Campos: „ Über die anthropophagische Vernunft: Europa im Zeichen des Gefressenwerdens", in: Lateinamerikaner über Europa, hrsg. von Curt Meyer-Clason, Frankfurt a.M. 1987, S. 103
(4) Tupi war die ursprüngliche Sprache der Tupinambá-Indianer aus dem brasilianischen Nordosten.


Erschienen am 03.12.2008, S. 32-33.
Tags: Urbanismus, Stadtplanung, Kartierung, Stadtkulturelle Debatte, Situationismus, Utopie, Zwischennutzung, Performanz

Dias&Riedweg Funk Staden, Medieninstallation, Documenta 12, Kassel 2007, Courtesy Galeria Filomena Soares, Lissabon. Die Arbeit collagiert den 1557 in Marburg erschienen Reisebericht „Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen" von Hans Staden mit der Populärkultur Brasiliens zu einer verwirrenden sinnlichen Erfahrung.

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