quarta-feira, 16 de novembro de 2011

Ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger über das Ende (03.11.1999 Hannover)

Ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger über das Ende (03.11.1999, Hannover, Hotel Maritim )










ERSTER GESANG
Einer horcht. Er wartet. Er hält
den Atem an, ganz in der Nähe,
Her, Er sagt: Der da spricht, das bin ich.

Nie wieder, sagt er,
wird es so ruhig sein,
so trocken und warm wie jetzt.

Er hört sich
in seinem rauschenden Kopf.
Es ist niemand da außer dem,

der da sagt: Das muß ich sein.
Ich warte, halte den Atem an,
lausche. Das ferne Geräusch

in den Ohren, diesen Antennen
aus weichem Fleisch, bedeutet nichts.

Es ist nur das Blut,

das in der Ader schlägt.
Ich habe lang gewartet,
mit angehaltenem Atem.

Weißes Rauschen im Kopffhoerer
meiner Zeitmaschine.
Stummer kosmischer Lärm.

Kein Klopfzeichen. Kein Hilfeschrei.
Funkstille.
Entweder ist es aus,

sage ich mir, oder es hat
noch nicht angefangen.
Jetzt aber! Jetzt:

Ein Knirschen. Ein Scharren. Ein Riß.
Das ist es. Ein eisiger Fingernagel,
der an der Tür kratzt und stockt.

Etwas reißt.
Eine endlose Segeltuchbahn,
ein schneeweißer Leinwandstreifen,

der erst langsam,
dann rascher und immer rascher
und fauchend entzweireißt.

Das ist der Anfang.
Hört ihr? Hört ihr es nicht?
Haltet euch fest!

Dann wird es wieder still.
Nur in der Wand klirrt
etwas Dünngeschliffenes nach,

ein kristallenes Zittern,
das schwächer wird
und vergeht.

Das war es.
war es das? Ja,
das muß es gewesen sein.

Das war der Anfang.
Der Anfang vom Ende
ist immer diskret.

Es ist elf Uhr vierzig
an Bord. Die stählerne Haut
unter der Wasserlinie klafft,

zweihundert Meter lang,
aufgeschlitzt
von einem unvorstellbaren Messer.

Das Wasser schießt in die Schotten.
An dem leuchtenden Rumpf
gleitet, dreißig Meter hoch

über dem Meeresspiegel, schwarz
und lautlos der Eisberg vorbei
und bleibt zurück in der Dunkelheit.
("Der Untergang der Titanic", 1978)

José Galisi Filho - In der Mitte der Wüste Arizonas befindet sich eine riesige Skulptur. „Komplex 1" lautet rätselhaft der Name. Kein Museum der Welt könnte sie ausstellen im Sinne von Gehalt und Form. Sie ist eine Rampe, die ins Nichts springt oder vielleicht darauf hinweist. Wer sich die Mühe macht hinzugehen, gibt schon sein Einverständnis und wiederholt einen asketischen Gestus des Aufgebens. An der Grenze von Landschaft und menschlichem Produkt erinnert sie uns an eine gefrorene Energie, die auch mit Müdigkeit und Schweigen verwandt ist. Die Skulptur als Gestus verkörpert ein „Fundament", elementar wie der Boden und seine Kräfte. Ihre Haltung ist ein lyrischer Fundamentalismus, eine Figur der avantgardistischen Orthodoxie in ihrer Reinheit. Ist die Truppe am Ziel schon angekommen, oder marschiert sie immer noch? Ihr letztes Buch heißt „Leichter als die Luft", aber dieses Jahrhundert wird für immer jenes des Untergangs des Subjekts sein. Die Avantgarde ruht sich aus - es sind die anderen, die immer noch marschieren. Hätten Sie vielleicht diese Ruhe gefunden, Herr Enzensberger, wie Ihre Zeilen lauten: „Einer horcht. Er wartet. Er hält den Atem an, ganz in der Nähe hier. Er sagt: Der da spricht, das bin ich. Nie wieder, sagt er, wird es so ruhig sein, so trocken und warm wie jetzt. Weißes Rauschen im Kopfhörer meiner Zeitmaschine. Stummer kosmischer Lärm."

Hans Magnus Enzensberger - Ob es ihr gelungen ist oder nicht, ans Ziel zu kommen, werden wir nicht genau wissen. Aber diese Rampe ins Nichts erinnert an die Beharrlichkeit der Arbeit von Sisyphos, dessen Stein in der Tat der Frieden ist. Diese Energie könnte vielleicht aus diesem sonnigen Morgen kommen. Die Sonne ist ganz einfach da. Dieser Impuls nach vorne ist unaufhaltsam und schreibt sich selbst in der Einbildungskraft unserer Gattung ein. In meinem Gedicht habe ich nicht das Ende formuliert, sondern die Annäherung an das Ende, ein Ende, das immer wieder verschoben wird. Solange wir reden, wird das Ende nicht stattfinden, solange wir den Atem durchhalten können. An der Stelle des Endes tritt immer etwas anderes auf. Das Ende kann nicht da sein, wenn es so wäre, dann wäre dies nicht das Ende.

José Galisi Filho - Der Anfang vom Ende ist immer „diskret", er ist schon passiert, das Eis hat uns schon erreicht. Diese Annäherung an das Ende formulieren Sie in Hegelschem Stil als die Aufhebung des Endes, auf deutsch: das Vollenden. Sie behaupteten auch in „Der Untergang der Titanic", dass „Vernunft Vernunft ist, und nicht Vernunft, um das zu kapieren, braucht man nicht Hegel zu sein, dazu genügt ein Blick in den Taschenspiegel", das heißt, die Vernunft ist nicht am Ende, aber in der Mitte, sie ist die Schwelle des Endes, das immer wieder verschoben wird bei dem Exorzismus des Wirklichen. Wer sollte nun diesen Untergang bezeugen?

Hans Magnus Enzensberger - Aber die Geschichte auch der Philosophie ist zu „Ende". Im vergangenen Jahrhundert gab es diese großen Abhandlungen der Geschichte der Philosophie, doch niemand mehr heute glaubt an die Existenz dieser Geschichte. Wenn wir über das Ende sprechen, es kann nicht da sein. Jeden Tag passieren "mini-mikroskopische" Apokalypsen. Die Apokalypse ist vor allem eine demokratische Phantasie. Aber es gehört zur Idee der Apokalypse selbst, dass sie total ist. Der Untergang der Welt gilt für alle ohne Ausnahme, das ist eine Phantasie des Untergangs in der Gleichheit, also eine Phantasie der Gleichheit vor dem Ende. Also ist die Apokalypse eine Phantasie des Terrors, aber auch Ausdruck des Wunsches eines Endes in dieser Gleichheit. Aber die Realität ist nicht so, wir können eine Halluzination haben, aber in der Tat sitzen wir an diesem schönen Morgen wie der Maler der umbrischen Apokalypse in dem Buch.

José Galisi Filho - Wir sind schon lange in ein neues unbekanntes Territorium ohne Begrifflichkeit eingetreten, wie Ihr Essay „Aussichten aus dem Bürgerkrieg" zeigt. Um es zu kolonisieren, soll unsere kritische Metapher neu und schnell erfunden werden. Wie beschreiben Sie die Bewegung des Denkens vor den neuen Erscheinungen? Gibt es heute ein Wort in der Lyrik, welches die Ausbeutung noch bezeichnen kann?

Hans Magnus Enzensberger - Diese Bewegung des Denkens vor den neuen Erscheinungen heißt seit Montaigne Essay. Ich bin kein Philosoph. Ein Philosoph muß argumentieren. Heute haben die Philosophen längst aufgegeben zu argumentieren. Die Philosophen heute delirieren, wir haben die delirante Philosophie. Die Franzosen sind die Spezialisten in diesem „Metier" des Deliriums der Philosophie, d.h. in einer Art Zungenrederei zu sprechen wie in der Bibel In der Bibel spricht man nur durch diese Zungen. Die meisten reden nur in diesen Zungen und Dialekten der Sekten. Das ist so unehrlich, denn wenn man sie widerlegen will, sagen sie: „Aber ich mache ja Literatur". Und wenn man darauf erwidert: Aber du schreibst nicht so gut für einen Schriftsteller, dann sagt der Schriftsteller: „Aber ich bin Philosoph". Das ist ein billiger Trick, gut, warum nicht, Tricks sind erlaubt, aber so offensichtlich ist es eben ein billiger Trick und leicht zu durchschauen. Das ist nicht mehr das, was man unter einer konsistenten Philosophie verstehen kann. Was die Ausbeutung betrifft, die Ausbeutung hat sich mit den neuen Technologien entwickelt . Die Leute heute hoffen, dass jemand sie ausbeutet. Sie hoffen darauf, die Arbeitslosen. Aber es gibt niemanden mehr, um sie auszubeuten. Das ist auch ein Paradoxon der Nachfrage und des Problems der Maschinalisierung. Wenn das Kapital nicht mehr diese Leute braucht, dann ist die Ausbeutung nicht mehr der Schrecken, der sie frührer war, über den man sich dann beschwert und beklagt hat. Die Leute hoffen, dass sie jemanden finden, der sie ausbeuten kann. Das ganze Problem von Afrika ist, dass es ganz uninteressant geworden ist, weil es dort kein Öl oder Diamanten wie in der Vergangenheit gibt, und es sind deshalb inzwischen keine Ausbeuter mehr da. Das ist in gewisser Weise schlimmer als vorher.

Frage - Sie haben einmal behauptet , dass die Bild Zeitung als Nullmedium radikaler als ihre Kritiker sei. Mit dem Internet wird sogar die Wirklichkeit ersetzt, ein Traum, den sich sogar die Avantgarde nicht vorstellen könnte.

Hans Magnus Enzensberger - Aber man versucht jetzt, sie abzuschaffen, es geht um diese sogenannten Projekte der künstlichen Intelligenz. Das ist auch eine technische Utopie, weil der Körper anfällig ist, sterblich, und also brauchen wir bessere Werkzeuge, d. h. bessere Maschinen. Das ist auch eine Art von armer Utopie. Die wird genau so scheitern wie die anderen Utopien. Die künstliche Intelligenz, sollte man ja nicht vergessen, ist ein Projekt von Technikern und Wissenschaftlern, die auf diese Weise Milliarden bekommen im Namen eines Versprechens, aber sie haben noch nichts zustande gebracht, und ich bin sehr skeptisch demgegenüber. Die künstliche Intelligenz hat sich bis jetzt nur blamiert. Wir haben sogar nicht einmal einen Roboter, der einen Fußboden sauber machen könnte. Die Maschinen sind sehr dumm. Das ist eine Utopie wie der Kommunismus und andere, die scheitern alle wie die technische Utopie und wie dieser Versuch, den Menschen durch die Genetik zu verbessern. Es wird sich irgendwann zeigen, wie blödsinnig die technische Utopie ist. Wie gesagt, wenn die Menschen nicht mehr auszuhalten sind, sollte jede Möglichkeit, die ihnen überhaupt erreichbar ist, irgendwann mal realisiert werden. Diese neuen Biotechnologien werden nicht ungenutzt sein, es wird immer jemand da sein, um sie zu verwenden. Das ist eine neue Art von Ausbeutung, die nicht mehr mit der der Klassenkämpfe zu tun hat. Es geht um das neue Stadium der Arbeitskraft und um die Kontrolle des genetischen Kapitals dieser Arbeitskraft.


José Galisi Filho - Ist es noch möglich, Gedichte wie „Der Untergang der Titanic" zu schreiben?

Hans Magnus Enzensberger - Die Gedichte in „Der Untergang der Titanic" sind sehr bescheiden, und alles ist dort sehr relativ und nimmt sich immer selbst zurück. Man nimmt das zurück, weil man nicht mehr die Position eines Leonardo einnehmen kann oder wie von diesen universalen Menschen wie Goethe oder Dante. Das macht niemand mehr. Es gibt nicht mehr diese Menschen oder diese Idee von Menschen, die über die Menschheit erhaben sind. Die Künstler sind genau unmächtig wie die anderen Leute. Sie versuchen ihr bestes wie andere auch, aber ohne sich Illusionen zu machen. Wir machen weiter. Wir haben noch ein Ende in der Hand, wir haben noch einen Moment, in dem man weiter machen kann. Wenn man über dieses Ende der Kunstperiode spricht, das geht ja schon seit 200 Jahren dem Ende zu, seit dem Ende der Kunstperiode. Dieses Ende ist sehr lang!


José Galisi Filho - Gescheiterte Künstler wie Hitler haben die ästhetische Apokalypse gewollt..

Hans Magnus Enzensberger - Goebbels war auch ein Künstler und Schriftsteller. Diese These vom Gesamtkunstwerk des Totalitarismus, was will sie genau sagen? Es gibt auch Theorien darüber. Das sind die wild gewordenen Künstler. Das sind Künstler, die nicht verstehen, dass die Kunst nicht allmächtig ist. Diese Illusion der Allmacht der Kunst. Ein intelligenter Künstler weiß, dass er nicht allmächtig ist. Ein Heiner Müller wusste genau, dass er nicht allmächtig war. Aber Hitler und Speer hatten infantile Machtphantasien gehabt. Ohne sich bewußt zu sein der Problematik der Ohnmacht der Kunst. Ohne Selbstreflexion.


José Galisi Filho - Wo ist der Schüssel, der das Jahrhundert Kafkas für immer schließt? Es gibt Hoffnung, glaubte damals Kafka, aber nicht für uns, nicht für uns aus Brasilien, wir wollen kein Rest der Geschichte sein...


Hans Magnus Enzensberger - Ich denke, Brasilien ist eines der Länder, das noch eine wirkliche Utopie hatte, die glaubten, sie hätten eine Zukunft auf ihrer Seite. „Wir kommen erst noch!", wir haben sozusagen etwas, was uns bevorsteht. Das hatte aber der Westen nicht mehr, kein Land der Welt hat so ein Motto wie in der brasilianischen Flagge „Ordem e Progresso" (spricht auf Portugiesisch), Ordnung und Fortschritt. Das ist ja aber phantastisch für ein Land. Auch das gibt es genau wie für das Ende der Kunst, die sich immer weiter fortsetzt, obwohl es seit 200 Jahren das Ende der Kunst gibt und immer noch ein Ende, das immer wieder verschoben wird, auch da gibt es diesen Glauben an die Zukunft. Diese große Zukunft Brasiliens wurde immer versetzt und weiter verschoben in der Moderne,

die kommt erst noch. „Eines Tages werden wir eine große Macht sein" hieß damals das Motto, d.h. eines Tages werden wir die Probleme, die noch vorhanden sind, mit der riesigen Vitalität lösen, die wir haben, doch das Fehlen der Strukturen und Institutionen, ich weiß es nicht, ich bin sehr skeptisch. Ich sehe nicht diese Lösung in Brasilien, wie auch in der Kunst nicht, die immer weiter macht mit dieser Relativität, unaufhaltsam. Es gibt kein Ende. Dieser Fortschritt ist deswegen nicht gekommen und wird nie kommen auf diesem Weg. Was kommt der Ordnung und dem Fortschritt? Jedenfalls bin ich da skeptisch. Und ich kenne Brasilien sehr gut, diese Relativität ist typisch für Brasilien, doch es wird deshalb auch nicht zugrunde gehen, es wird kein Ende geben, aber immer mit „Desordem", Unordnung und einer Mischung von (spricht auf Portugiesisch) „Progresso e um pouquinho de Regresso!" (Fortschritt und ein bißschen Rückschritt).


José Galisi Filho - „Weil es also ein anderer ist/Immer ein anderer,/der da redet,/und weil der,/von dem da die Rede ist/schweigt." Von wem ist da heute die Rede, im Jahrhundert des Untergangs des Subjekts?

Hans Magnus Enzensberger - Das sind die ganzen Leute ohne Stimme in dieser Welt, und das ist eine riesige Masse bzw. die Mehrheit der Menschheit. Die Menschen, die schweigen, kommen nicht vor. Und der Versuch des Stellvertretertums ist auch interessant, es gab immer im Marxismus die Avantgarde, die Avantgarde des Proletariats, der Arbeiterklasse, der Partei. Die Avantgarde der Partei war das Zentralkomitee, das Politik an der Stelle der anderen macht. Das ist ein Problem wie in der Kunst, wenn man sie für andere macht. Und es ist genauso problematisch wie in der Politik, weil man nie weiß, wer überhaupt in der Lage ist, für die anderen zu sprechen. Das ist zweifelhaft. Dieser Mann sieht uns im Hotel und putzt den Boden, wie soll er verstehen, was los ist in der Welt. Das ist ganz schwierig. Ich weiß nicht, ich kann mich unterhalten mit den Leuten der brasilianischen „Favelas" (Slums), aber ich kann überhaupt nicht für sie sprechen.


José Galisi Filho - In ihrem Buch gibt es ein Gedicht über den brasilianischen Samba. Sehen Sie diese musikalische Gattung als Kitsch der „World Music" oder als eine Art nostalgisches Reservoir für den deutschen Mittelstand im Urlaub auf Mallorca oder Ibiza?

Hans Magnus Enzensberger - Natürlich - mit dem Samba passiert ähnliches wie in den zwanziger Jahren mit dem Tango (und heute mit dem kubanischen Song): unfreiwillige oder absichtliche Parodie, Travestie der Formen, Verdünnung - „Multikulturell": das bedeutet immer (unter anderem) Mißverständnis, Trivialisierung. Nicht immer ist das Hybride ein Vorzug. „Brasilianisierung", das sehe ich ähnlich. Auch ich halte so etwas für unvermeidlich (übrigens in dem Sinn, dass Europa in 30 Jahren vielfarbig und hybrid wird). Aber der Preis ist höher als Ullrich Beck vermutet. Keine Idylle, sondern starke Konflikte, mit „Favelas", Gangs, Rechtsunsicherheit. São Paulo ist ja kein Sanatorium!

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