quarta-feira, 6 de julho de 2011

Interview mit Jörg Lau Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Suhrkamp, Frankfurt 2001




JOSÉ GALISI FILHO- Wie funktioniert das „System Enzensberger“ als „öffentliches Leben“? Wie lässt sich die Form einer Biographie mit dem Paradoxon des Ichs, der „immer ein anderer“ ist, zu versöhnen?

Jörg Lau - Hans Magnus Enzensberger ist für mich besonders als deutscher Schriftsteller so interessant, weil er völlig mit dem Muster der deutschen „Innerlichkeit“ bricht. Man könnte bei ihm geradezu von einer deutschen „Äußerlichkeit“ sprechen. Das Wort „Äußerlichkeit“ wird im Deutschen normalerweise negativ gebraucht, im Sinne von Oberflächlichkeit. Immer wieder ist ihm auch vorgeworfen worden, er würde zu sehr schwanken, seine Meinung, seine Interessen ändern, er sei ein „Luftwesen“. In diesem Sinne gibt es Kritik an ihm. Aber ich sehe das im Gegensatz dazu positiv und als eine Korrektur der deutschen Tradition, die sehr auf heiligen Ernst, Prinzipientreue und Innerlichkeit setzt. Er interessiert sich sehr für die Welt. Er ist ein neugieriger Mensch, der von der Mathematik bis zur Linguistik und bis zu Reisen in die verschiedensten Länder immer neues Material in seinen dichterischen Kosmos hineinsaugt. Er braucht Material, er braucht Stoff. Er saugt ihn auf und er verarbeitet ihn in seinen Gedichten, aber auch in seinen Essays, also sowohl poetisch wie auch intellektuell. Das ist ein neues Modell – gerade vor dem Hintergrund der deutschen Tradition. Und deshalb habe ich das Stichwort „öffentliches Leben“ als Buchtitel gewählt. Mich hat Enzensberger besonders als die Figur interessiert, die sich einmischt, die engagiert ist, die aber auch Wissen über fremde Länder, naturwissenschaftliche Theorien und vieles andere verarbeitet. Das hatte es lange nicht gegeben. Es gab natürlich in der Zeit der Aufklärung gewisse Vorbilder dafür, wie z.B. Heinrich Heine und Georg Forster, den großen Reisenden und Revolutionär, der Ehrenbürger der Französischen Revolution geworden war. Man könnte noch viele andere Beispiele nennen. Aber es gibt niemanden außer Enzensberger, der das in dieser Systematik gemacht hat, was sich nicht nur in der Art spiegelt, wie er schreibt, sondern auch in dem, was er sonst noch alles unternommen hat: Er ist Übersetzer, er ist Herausgeber, er verlegt selbst Bücher, die diesen Interessen nahe kommen und sie spiegeln. Er ist so eine Art Agent im Literaturbetrieb, der versucht, dieses Anregende für andere bereit zu stellen: Die Gründung des „Kursbuches“ als neuer Zeitschrift in den 60er Jahren ist ein Beispiel dafür. Dieses „Kursbuch“ ist eine Art Literaturzeitschrift, wie es sie in Deutschland noch nie gegeben hatte: Es ging nicht nur um sog. schöne Literatur, sondern es wurden dort auch Abhandlungen über Strukturalismus, über Linguistik, über die Revolution in Kuba oder über Ökologie veröffentlicht. Was auch immer gerade ein wichtiges Thema war, wurde dort reflektiert. Es gab überhaupt nicht diesen Unterschied zwischen schöner Kunst und Sachthemen, Politik und Literatur, der in Deutschland ansonsten üblich war. Das wurde auf eine Weise miteinander vermischt, die damals revolutionär war. Da ist er für mich derjenige, der das personifiziert.

JOSÉ GALISI FILHO- Überleben durch geistige Beweglichkeit, Lust am Untergang und Umbruch, das Provisorium als Chance. Welche sind die Saisons dieses Provisoriums?

Jörg Lau - Ich glaube, dass Enzensberger so bekannt geworden ist für dieses provisorische oder essayistische Denken, hat auch Gründe in seiner Biographie: Denn sie müssen sehen, dass er zu der Generation gehört, die noch am Ende des Zweiten Weltkrieges als Jugendliche herangezogen wurde, zwar nicht mehr als reguläre Soldaten, aber entweder als Hitlerjungen oder als sog. Flakhelfer, um am Kriegsgeschehen teilzunehmen – in Deutschland nennt man das die Flakhelfergeneration. Diese Jugendlichen sind mit dem Nationalsozialismus aufgewachsen. Das sind ihre frühesten Erinnerungen. Sie sind entweder dadurch geprägt worden, dass sie selbst gläubig im Sinne des Nationalsozialismus waren oder dass ihr Umfeld, ihre Eltern, ihre Lehrer und die Institutionen völlig von diesem System geprägt waren. Ihr Erwachsen-Werden fiel zusammen mit dem Zusammenbruch dieses Systems. Und entweder wurde das als Schock erlebt, der zur Revision der eigenen Überzeugung Anlass gab, oder als Schock darüber, dass die gesamte Erwachsenenwelt einem solchen Wahnsinnssystem erlegen war. Daraus mussten nun Konsequenzen gezogen werden. Daher kommt dieses Moment der Unsicherheit des Gefühls, man könne sich im Grunde auf nichts verlassen, vor allen Dingen nicht auf Überzeugungen oder auf einen politischen Glauben. Für diese jungen Menschen in den ersten Nachkriegsjahren kam es darauf an, erst einmal die Welt neu zur Kenntnis zu nehmen. Es gab eine unheimliche Neugier auf die Welt, auf die literarischen, die kulturellen, die historischen Traditionen, die man als Kind nur durch diese Ideologie gefiltert kennen gelernt hatte. Diese Neugier wird von Vielen geschildert. Und der Essay war für Enzensberger als Form ein Mittel, in dem diese Art von Erkundung adäquat durchgeführt werden konnte, in dem die Kritik und die Erkundung der Welt miteinander verbunden werden konnten, in dem neues Wissen angeeignet werden konnte, ohne es gleich in ein System zu pressen. Es war ein Lernen im Medium der Kritik. Bei Enzensberger kommt dieses Essayistische verbunden mit einem tiefen Misstrauen gegen Überzeugungen, gegenüber Glaubenssystemen und auch gegenüber einer systematischen Philosophie. Das hat die Meisten in seiner Generation nicht interessiert. Und es gibt verschiedene Wege damit umzugehen: Es gibt den Habermas-Weg, eine Rekonstruktion der Vernunft, auch einen Weg durch die moderne Sprachphilosophie im Pragmatismus etc., den Weg Luhmanns, eine Art Systemtheorie auf Grund der Funktionen der modernen Gesellschaft, ihrer Teile, ihrer Funktionsteilung und Differenzierung, oder den Enzensbergerschen Weg des Experimentierens und Suchens. Das ist wichtig zu sehen, wenn man ihn als jungen Dichter betrachtet: Er musste sich die gesamte Moderne seit der Jahrhundertwende, die heute sog. klassische Moderne, selbst neu aneignen. Davon waren die Deutschen in Nazideutschland abgeschottet gewesen. Sie war als entartete Kunst überhaupt nicht verfügbar gewesen. Also hat er für sich selbst und für seine Generation im „Museum der modernen Poesie“ – so hatte er es genannt – eine Herausgabe der klassischen Moderne, und zwar von Lateinamerika bis nach Russland, vorgelegt und die großen Klassiker der Moderne gesammelt und übersetzt. Auf diese Weise hat er sich selbst erst eine Tradition geschaffen, in der er sich dann als Dichter weiterentwickeln konnte. Auch da ist diese Zerstörung und diese Stunde Null, die auch eine kulturelle Stunde Null war in Deutschland, und sie bildet die Voraussetzung für die Art, wie er sich selbst als Intellektueller verstanden hat.

JOSÉ GALISI FILHO- Das langsame Verschwinden der Personen in der Reihe der Revisionen und Debatten bildet für Sie einen „Lernprozess“. Wie funktioniert diese Dialektik?

Jörg Lau - Im Falle Kubas hat Enzensberger sich ja nicht ein einziges Mal in seinem Leben wirklich positiv festgelegt und engagiert. - Er war vorher immer der Kritiker und hat kritisiert, was ihm an der Nachkriegspolitik in Deutschland, an den politischen Parteien oder an den reaktionären Tendenzen in der Kultur nicht passte. Er hat sich nie positiv festgelegt für eine Partei oder für ein politisches Programm. Als 1968 die Studentenrevolte kam, war er eher ein Zuschauer, ein Beobachter, ein Mann, der am Rande stand und Sympathien hatte mit den Studenten, der aber nicht wirklich mitgemacht hat. Auch da war er skeptisch gegenüber dem Religiösen in dieser Bewegung, diesem Gläubigem. Der dogmatische Marxismus, der sich schnell herausbildete, war ihm unheimlich. - Die Sache mit Kuba erklärt sich so: Offenbar gab es eine Sehnsucht bei ihm, sich doch auch einmal festzulegen und mitzumachen. In Kuba sah er offenbar große Hoffnungen, dass ein Sozialismus unter Palmen in der Karibik Chancen hat, das gute Leben zu schaffen. Eine Chance, die er in Ostberlin und in Moskau nicht sah. Er hatte eine Sehnsucht nach der Utopie, die er vorher immer unterdrückt hatte, und die nun durchkam. Er dachte wirklich, er könnte nach Kuba gehen und der Revolution helfen, einen guten Start und ein gutes Leben zu schaffen. Sehr schnell hat er merken müssen, dass das ein Fehlglaube, ein Irrglaube war, denn in Wirklichkeit wurde er überhaupt nicht gebraucht. Man hat ihn eigentlich links liegen lassen. Was er wirklich in Kuba gesehen hat, war nicht sehr ermutigend gewesen: Es gab dort auch eine Welle von Unterdrückung gegen die Intellektuellen. Es war eigentlich sehr hoffnungslos. Und natürlich war das ein großer Schock für ihn, den er nur langsam in den 70er Jahren verarbeitet hat. Es war ein Schock für ihn, dass bei dem einen Mal, wo er sich politisch sehr weit aus dem Fenster gelehnt und engagiert hatte, er so falsch gelegen und ein Regime unterstützt hatte, dass eigentlich doch ziemlich kräftig war. Ich glaube, ja. Man hätte erwarten können, dass er jetzt schreibt, er käme aus Kuba zurück und hätte eine große Enttäuschung erlebt. Jetzt hätte er einen Bericht „Mein kubanisches Abenteuer“ über seine Hoffnungen und Enttäuschungen schreiben können und darüber, wie in Kuba das verraten wurde, wofür er glaubte kämpfen zu müssen, nämlich diesen freiheitlichen Sozialismus, den er glaubte dort zu sehen. Das hat er nicht gemacht. Man weiß nicht genau, warum. Aber wahrscheinlich hat er es auch aus Scham nicht getan, denn es ist nicht schön, solche Irrtümer zuzugeben, besonders wenn man ansonsten immer so skeptisch war und beiseite gestanden hat wie er. Und wenn man sich dann einmal engagiert hat, dann möchte man nicht gerne sein Tagebuch öffnen und alles offen legen und den eigenen Fehler eingestehen. Aber er hat das viele Jahre später in seiner Dichtung über der Untergang der Titanic verarbeitet. Das war das Symbol für diese gescheiterten Hoffnungen. Es hat aber sehr lange gedauert und war auch nicht direkt formuliert. Er neigt überhaupt nicht dazu, sich selbst zum Thema zu machen und von sich in der ersten Person zu sprechen, sondern er tut das durch Metaphern und Bilder.
Dann kam die Debatte um den Holocaust. Der Streit ging darum, dass Enzensberger ein Buch mit dem Titel „Politik und Verbrechen“ veröffentlicht hat. Dieses Buch sammelt Aufsätze zum Thema Politik und Verbrechen, also vom Terrorismus in Russland bzw. den Terroristen aus der Zarenzeit bis zur Atombombe als Thema. Und natürlich spielt die Zeit des Nationalsozialismus immer eine Rolle dabei, sie ist mindestens im Hintergrund ständig präsent. Nun wurde dieses Buch von der Zeitschrift Merkur Hannah Arendt zur Besprechung gegeben. Sie weigerte sich aber, es zu besprechen, weil sie der Meinung war, dass die Gleichsetzung von Politik und Verbrechen, die Enzensberger vornimmt, eine Relativierung der Nazi-Verbrechen bedeute. Enzensberger argumentiert im Grunde in dem Buch, dass es so etwas wie eine gleiche Ursprünglichkeit von Verbrechen und Politik gibt, dass im Grunde jedes Gemeinwesen auf einem Ursprungsverbrechen beruht. Er argumentiert mit Freud und dem Vatermord als Ursprung aller Zivilisation... und kommt am Ende auf die Atombombe zu sprechen. - Das war das große Thema Ende der 50er Jahre, Anfang der 60er Jahre. Das war das, wovor sich alle Menschen fürchteten und was die politischen Bewegungen auch am meisten beschäftigte, der Kampf gegen die Atombombe, und das, was man damals auch den nuklearen Holocaust nannte, der drohte. - Enzensberger macht in seinem Aufsatz über die Atombombe eine Gleichsetzung bzw. einen Vergleich, der sehr, sehr gewagt ist: Und zwar spricht er von Eichmanns Prozess in Jerusalem 61... In diesem Fall sagt er: In Jerusalem wird zwar Eichmann der Prozess gemacht, aber während wir jetzt über diese vergangenen Verbrechen zu Gericht sitzen, werden die nächsten fürchterlichen Verbrechen vorbereitet. Und die Atomrüstung ist das, was er da im Auge hat. Dafür wird man niemanden mehr in einen Glaskasten stellen und anprangern können, denn es wird zur totalen Apokalypse führen usw. Hannah Arendt hat sich fürchterlich geärgert über diese Analogie zwischen Eichmann und den Planern der Atombombe, weil sie der Meinung war, dass das nicht vergleichbar sei und die deutschen Verbrechen in ihrer Monströsität verharmlose und in ein Kontinuum von Politik und Verbrechen stelle, wo sie nur eine Episode bildeten in einer langen, langen Folge von Massakern, und das Spezielle und Bemerkenswerte an dem, was die Deutschen gemacht haben, verloren ginge. Darüber gab es einen Briefwechsel mit Enzensberger, der auch veröffentlicht wurde. Ich glaube, dass Hannah Arendt am Ende Recht behalten hat. Es gibt in diesem Vergleich der Bombe mit Auschwitz etwas wirklich Unangemessenes. Das ist etwas, was Enzensberger nicht sehen wollte und auch bis heute nicht sehen kann. Er hat mir, nachdem das Buch erschienen war, geschrieben und er ist immer noch der Meinung, dass...Man muss auch sehen, wie über diesen Eichmann-Prozess in Deutschland berichtet wurde und wie die Intellektuellen der Linken über diesen Prozess und auch über die damals beginnenden Auschwitz-Prozesse in Frankfurt gedacht haben. Da ist etwas ganz Unheimliches im Spiel, wenn man sich das von heute aus anguckt: Es wurde sehr dadurch abgewertet, dass gesagt wurde, es würden doch nur einzelne Figuren dafür haftbar gemacht, obwohl das Problem in Wirklichkeit strukturell und eines der deutschen Gesellschaft sei u.ä.. Man wollte gar nicht so genau hingucken, was da wirklich verhandelt wurde. Und das ist sehr, sehr merkwürdig. Man findet das auch in den Kommentaren von Habermas zu den Frankfurter Prozessen. Eigentlich hätte das ein starkes Interesse besonders bei den Intellektuellen auslösen müssen, denn die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus war für diese Generation sehr wichtig. Aber es war nicht so. In Wirklichkeit wurde das alles vom Tisch gewischt und abgewertet. Man sprach lieber über die Bombe. Und dann kam Vietnam als neues Thema. Ja, da ist ein Moment von Verdrängung sogar bei denen, die das selbst niemals akzeptieren würden, wenn man ihnen das vorhalten würde. Aber es ist so, wenn man sich diese Schriften anguckt. Psychologisch ist das auch verständlich, denn was man in diesen Prozessen zu hören bekam, war so fürchterlich, dass es schwer fällt, sich dem gleich zu stellen und zu sagen: „Ja, schauen wir mal genau hin.“ Es hat noch sehr lange gedauert, bis das möglich war, erst in den 80er Jahren, 90er Jahren. Damals in den 60er Jahren war niemand wirklich dazu fähig. Auch die Linke nicht. Und was das Thema Atombombe betrifft: Wenn man über die Bombe sprach, sprach man immer über Deutsche als mögliches erstes Opfer. Es wurde immer gesagt, wenn es zum Atomkrieg kommt, ist Deutschland das erste Opfer. Wahrscheinlich war das auch richtig. Tatsächlich lebten die Deutschen an der Konfrontationsstelle der beiden Blöcke. Aber es gab auch so eine Art Wunsch der Deutschen, aus ihrer fürchterlichen Täterrolle herauszukommen und sich selbst als Opfer des nächsten Krieges zu sehen. Das brachte psychologisch gesehen auch eine gewissen Entlastung. Da ist Enzensberger Teil dieser Strömung. Und Hannah Arendt hat das sehr genau bemerkt und hat ihm das vorgehalten. Er wollte das nicht anerkennen. Er will das bis heute nicht anerkennen. Aber ich glaube, sie hat Recht, sie hat das genau erkannt.

JOSÉ GALISI FILHO– Was ist die Bedeutung der Gruppe 47 in diesem Prozess?

Jörg Lau - Die Gruppe 47 war sehr wichtig für das Nachkriegsdeutschland in einer Art von Wiederholung einer Phase der deutschen Geschichte, in der die literarische Öffentlichkeit schon einmal eine Art Ersatzöffentlichkeit für politische Debatten war, die sonst nicht stattfanden. Das war beispielsweise zur Zeit der Aufklärung so, als in anderen europäischen Ländern schon wesentlich freier debattiert wurde. In Deutschland gab es noch keine wirkliche Pressefreiheit und trug man über die Literatur die politischen Debatten aus, die nicht stattfinden konnten. Nun war das in der jungen Bundesrepublik zum Teil ähnlich mit den Debatten über deutsche Identität, die deutsche Teilung und auch über den Nationalsozialismus. Sie wurden zunächst von den Literaten und in der Gruppe 47 besonders prononciert ausgetragen und die Literaten waren in dieser Hinsicht eine Art gesellschaftlicher Avantgarde, vielleicht zum letzten Mal. Das ist heute vorbei. Diese Funktion hat die Literatur nicht mehr in Deutschland, worüber man nicht unbedingt traurig sein muss, weil es viele Themen gibt, die eher in die politischen Seiten der Zeitungen und ins Parlament als in einen Dichterclub gehören. Aber dieser Club von Dichtern, die Gruppe 47, die musste sich damals auch als eine Art Salon sehen, in dem die wirklich wichtigen Dinge verhandelt wurden.

JOSÉ GALISI FILHO– Damals behauptete Enzensberger, es sei die Aufgabe der Lyrik gegen die banale Intention für ein abstrakt kollektives Subjekt zu sprechen, zwar gegen die Fantasie der Ohnmacht und Impotenz dieses Subjekts.

Jörg Lau - Das allgemeine Gefühl war Ohnmacht und daraus folgend fühlte man sich für alles zuständig. Es gehört zusammen: Ohnmacht und Allmachtsphantasie gehören in dieser Gruppe sehr stark zusammen. Man hat Resolutionen verfasst zu jedem innen- und außenpolitischen Thema, man hat Proteste eingelegt, man hat sich um Innen- wie Außenpolitik gekümmert. Und immer wieder und vor allen Hans Werner Richter, der die Gruppe im Grunde genommen über viele Jahre hinweg leitete, als treibender Kopf. Wenn man es im europäischen Zusammenhang betrachtet, war es auch eine Art Nachholen eines Verständnisses vom Dichter und Schriftsteller als politisch engagierter Persönlichkeit, die anderswo schon eine lange Tradition hatte, wie in Frankreich und England. In Deutschland gab es durch den Nationalsozialismus einen großen Rückschlag und jetzt schloss man an an diese freiheitlichen Traditionen des Westens, wo der Schriftsteller als Intellektueller für das Ganze sprach. Enzensberger hat das zum Teil immer wieder kritisiert und davor gewarnt, dass man sich zu sehr entferne von dem, was man könne. Man sei Dichter und nicht Fachmann für die verschiedensten Dinge. Aber zugleich hat er selbst am stärksten den sich überall einmischenden und engagierten Intellektuellen verkörpert.

JOSÉ GALISI FILHO– Der „Kursbuch 15“ verkündigte damals den „ Tod der Literatur“, seine Auflösung als Institution in Wirkungslosigkeit. Wie stand Enzensberger zur geistigen Strömungen der Epoche gegenüber?

Jörg Lau - Ja, da kommen verschiedene Dinge zusammen. Zum einen hat das politische Hintergründe: Das sind natürlich die 60er Jahre mit der ganz starken Politisierung der Studenten und auch –fast der ganzen Gesellschaft. In Deutschland war das das Ende der Adenauer-Zeit, in der ein guter Großvater mehr oder weniger patriarchalisch oder autoritär die Geschicke des Landes lenkte. Diese Zeit war zu Ende. Aber es gab noch keine neue Perspektiven. Es gab zur gleichen Zeit die großen internationalen Themen, die wichtig wurden, wie den Vietnamkrieg, die Rüstung und den kalten Krieg. Und es gab intern in der Literatur eine Entwicklung, die zu großen Selbstzweifeln führte, in dem man in Deutschland etwas verspätet die Moderne rezipierte in ihren Formexperimenten, in ihren Zweifeln an der Abbildbarkeit der Welt, in ihrem Zweifel am Autor. Fast parallel zu diesem Kursbuch hat in Frankreich Michel Foucault diesen Vortrag, diese Antrittsvorlesung gehalten „Was ist ein Autor?“, in der er genau diese Figur des Autors als eine Art von Illusion entlarvt, die dem Literaturbetrieb und dem bürgerlichen Subjekt usw. dient, die aber in der Literatur überhaupt gar keine Notwendigkeit ist. Er spricht ja da so etwas raunend von einer Literatur, die vielleicht ohne eine solche Kategorie wie den Autor auskommt, so eine Art – ja, ich weiß nicht, wie man es nennen soll – freien Diskurs, der ohne diese bürgerlichen Kategorien auskommt. Und all diese Einflüsse, die muss man sich dazu denken, um dieses Kursbuch zu verstehen. Ja, es gibt diesen Selbstzweifel der Literatur, der schon eine moderne Tradition ist, den schon die Dadaisten und die Surrealisten und ähnliche Bewegungen ja schon vorangetrieben haben. Es gibt diese Politisierung. Und in dem Moment mit sicherem Gespür macht Enzensberger dieses Kursbuch „Tod der Literatur“. Das war natürlich auch eine Kampferklärung an den Literaturbetrieb, dem er selber angehörte inklusive Gruppe 47. Er hatte den Eindruck: „Das bringt’s nicht mehr. Das führt zu nichts. Wir müssen direkter politisch tätig werden. Wir können uns nicht damit begnügen, bei unseren Dichtertreffen die Regierung zu kritisieren. Wir müssen das viel radikaler und grundsätzlicher machen. Und vielleicht müssen wir diese Sphären, die wir so vermischen, Literatur und Politik, wie das in der Gruppe 47 geschah, wieder deutlicher trennen. Dann machen wir eben politische Reportagen und schreiben Gedichte vielleicht, wenn wir überhaupt welche schreiben, die nur noch dem eigenen Gesetz der Literatur folgen. Aber wir sollten uns nicht der Illusion hergeben, dass ein politisches Gedicht die Welt verändern kann- verstehen Sie. Und das wurde ganz stark vorgetragen in diesem Kursbuch mit einer Kritik am Literaturbetrieb, aber auch einer Kritik dessen, was man so den bürgerlichen Intellektuellen nannte. Und es war schon eine Implikation dabei, dass man sich vorstellte, der Intellektuelle sollte direkter in die Klassenkämpfe eingreifen, sollte sich entschiedener entweder sozusagen als eine Art Ingenieur der neuen Gesellschaft verstehen und heraus aus dem Elfenbeinturm und so. Und diese ganzen Momente gab es dabei auch. Die Ironie dabei ist - für Enzensberger gesprochen-, dass er zwar zu den radikalsten Kritikern des bürgerlichen Schriftstellers gehörte und man von diesem Kursbuch her gesehen den Eindruck bekommen konnte, Enzensberger wird nie wieder dichten, Enzensberger gibt diese Seite auf in seinem Leben, er will jetzt nur noch der Revolution dienen oder so. Gut danach ging er ja nach Kuba. In Wirklichkeit schreibt er aber in dieser Zeit sehr wohl weiter Gedichte und einige seiner besten – finde ich – entstehen in dieser Zeit, in der er offiziell völlig zweifelt am Sinn der Literatur. Und das sieht man dann in den 70er Jahren, wenn diese Gedichte auch veröffentlicht werden. Offenbar hat dieser Selbstzweifel an dem Sinn der politischen Literatur ihn zu sehr guten Gedichten angespornt.

JOSÉ GALISI FILHO– Wie formalisiert sich das Verhältnis im Werk zwischen dem Dichter und Essayist Enzensberger mit Adornos Erbe?

Jörg Lau - Erst mal für die jüngeren Jahre, für die ersten Jahre, in denen Enzensberger berühmt wurde durch seine kulturkritischen Essays kann man sagen, im Grunde hat er die Gedanken, die Adorno formuliert hat schon in der „Dialektik der Aufklärung“ in der Kritik der Kulturindustrie, die hat Enzensberger angewendet und in gewisser Weise populär gemacht. Die beiden kennen sich seit langem; Ihre Korrespondenz geht zurück bis auf Enzensbergers Zeit beim Süddeutschen Rundfunk, vor nun fast schon zehn Jahren Er hat doch gezeigt, dass man mit dieser kritischen Haltung von Horkheimer und Adorno, dass man damit wirklich arbeiten kann, dass man damit im konkreten Material, das sich jetzt bietet für einen Intellektuellen, der die Gesellschaft beobachten und darstellen will, dass sich da tatsächlich arbeiten lässt mit diesen Theorien. Also z..B. hat Enzensberger das ja gemacht für den Tourismus. Das hätte Adorno gar nicht anders, besser schreiben können. Das ist im Grunde angewendeter Adorno. Oder dann nehmen Sie die Taschenbuchproduktion, das Medium Taschenbuch, „Die Sprache des Spiegels“. Und das war sehr inspirierend auch für die Intelektuellen, die auch fasziniert waren durch diese Immigranten, die zurückgekommen waren, und diese Art von Kritik eingeführt haben – muss man sagen – wieder eingeführt haben, die in Deutschland ja vergessen worden war. Im Grunde ein Geist, der aus der 20er, 30er Jahren wieder in die deutsche Öffentlichkeit kam. Und insofern kann man sagen, Enzensberger war damals eine Art Schüler, ohne dass er sich als Schüler verstand oder dass er sich so bezeichnet hätte. Er hat das angewendet und auf eine sehr eigene und kreative Art. Dann gab es natürlich einen Bruch in der Zeit, über die wir schon geredet haben: Und das sind die mittleren 60er Jahre. Das ist der Moment auch dieses Kursbuches vom Tod der Literatur. Da sind zwar Motive drin von Adorno. Was Adorno über Beckett gesagt hat über dieses„Endspiel“. Da ist ja auch dieses Zweifeln an der Literatur ganz stark, das Zweifeln an eine Kunst, die irgendwie die Wirklichkeit darstellen will, auf eine direkte Art, die irgendeinen versöhnenden oder belehrenden Schluss haben will. Das haben die junge Leute wie Enzensberger damals gelernt bei Adorno: diesen Zweifel an der Literatur. Insofern kann man sagen, geht das schon in der Richtung, die Adorno vorgegeben hatte, aber Adorno wäre niemals bereit gewesen die Literatur oder die Kunst generell in dieser scharfen Weise zu kritisieren und für erledigt zu erklären. Für Adorno war doch die Kunst... die bürgerliche vielleicht ja, aber vielleicht – sagen wir - die moderne Kunst, die Musik nach Schönberg oder auch die Literatur nach Beckett: Das war auch doch für Adorno die letzte Hoffnung. Also da könnte gewissermaßen eine Hoffnung überleben gerade in dem Moment der Verzweiflung und der Sinnverweigerung. Das ist doch das bleibende Motiv bei Adorno, dass er sagt, im Beckett, in dem er gerade die Unmöglichkeit von Sinn, von Glück und Identität beschreibt. Gerade indem er das so beschreibt, wie er es tut im „Endspiel“ oder in „Warten auf Godot“ hält er daran fest an dieser Dialektik. Und das hat Enzensberger in dem Moment völlig negiert. Er hat im Grunde gesagt: „Nein, die Kunst ist vorbei und jetzt müssen wir uns direkt politisch auch engagieren. Er hat da gebrochen mit Adorno, wie überhaupt die ganze Studentenbewegung, die unzufrieden war mit der kritischen Theorie, weil die Kritische Theorie ihr keine guten Gründe für ihr politisches Handeln lieferte, weil die Kritische Theorie zu sehr in dieser Dialektik, wie man damals fand, erstarrt war und das direkte Handeln kritisierte. Da haben sich die Wege getrennt, würde ich sagen. Und das hat Adorno ja auch sehr bedrückt, dass die Stundeten jetzt glaubten, sie können eben jetzt doch die Revolution machen und sie können die gute Welt doch schaffen. Es wurde eine Vorlesung von Adorno gestürmt, und dann kam es zu dieser für Adorno schrecklichen Szene, dass dort junge Frauen ihre Brüste zeigten, um ihn zu provozieren. Und er, Adorno, galt plötzlich als bürgerlicher Intellektueller, der nicht genug tut für die Revolution und – weiß der Teufel was. Und er hat sogar die Polizei einmal gerufen, um... Ich glaube, es ging darum: Das Institut war besetzt worden in Frankfurt und er hat die Polizei gerufen, um es räumen zu lassen. Und das haben ihm die Studenten nie verziehen und er hat den Studenten nie verziehen, dass er behandelt wurde wie ein Gegner, wie einer von den verhassten bürgerlichen Intellektuellen, dass man sich über ihn lustig machte. Und Enzensberger war zwar nicht auf der Seite dieser Studenten, er war ja auch eine Generation älter als die Studenten, die diese Aktionen machten. Aber man muss sagen, was er in dem Kursbuch gemacht hat und was er in seinem eigenen praktischen Engagement gemacht hat, also diese Geschichte in Kuba, das war mit Adornos Vorstellung von der Funktion eines Intellektuellen nicht mehr zu vereinbaren. Da war ja auch der Bruch zwischen Habermas und Enzensberger und den Studenten. Habermas hat ja auch diese Aktionen damals, die zum Teil gewalttätig waren, nicht gut geheißen und hat sogar von linkem Faschismus gesprochen, was er erst später wieder zurückgenommen hat. Aber das ist genau dieser Bruch von der Kritischen Theorie, die den Intellektuellen als Kritiker sieht, zu den jungen Leuten, die den Intellektuellen, den bürgerlichen Intellektuellen kritisierten und die selber Aktivisten werden wollten und hier und jetzt die Revolution. Und da muss man sagen, hat Enzensberger für eine Zeit lang auf der Seite der Studenten gestanden, mindestens hat er damit sympathisiert und hat sich dort also von Adorno und von der Kritischen Theorie sehr stark entfernt. Man kann sagen, in seinem späteren Leben, also z.B. 1998, da hat er etwas veröffentlicht in der Los Angelos Times, da ging es um 150 Jahre Kommunistisches Manifest, da ging es darum zu sagen: was bleibt von Marx 150 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest? – und da schreibt er über Marx in einer Weise, die ist doch eigentlich wieder sehr so wie in den frühen Jahren und ist ganz in der Linie von Adorno. Und vielleicht hat er sich da im Alter wieder zurück bewegt und hat durch seine Selbstzweifel auch sein eigenes Engagement Ende der 60er Jahre relativiert. Insofern würde ich sagen, ist dieser Bruch vielleicht wieder ein bisschen gekittet worden. Aber es gab diesen Bruch, den er formalisiert hat. Hommage an Adorno mit dem Titel schwierige arbeit. Die beiden Texte stehen in einem engen Verhältnis: Adorno nach dem Ende von Fortschrittsglauben und Utopie - der legitime Erbe des Marxschen Denkens. Und entsprechend betrachtet Enzens¬berger Marx durch die Brille von Adorno: »ich seh dich verraten / von deinen anhängern: / nur deine feinde / sind dir geblieben: ich seh deingesicht / auf dem letzten bild / vom april zweiundachtzig: / eine ei-serne maske: / die eiserne maske der freiheit.« Was bleibt, wenn der Marxismus durch den Verrat seiner Anhänger in maskenhafter Starre endet? Nichts als jene schwierige arbeit, die sich bei Adorno lernen lässt, wie Enzensberger sagt: »geduldig / festhalten den schmerz der negation / einge¬denk der ertrunkenen in den vorortzügen um fünf uhr früh / gedul¬dig / ausfalten das schweißtuch der theorie / ... / geduldig / im namen der verzweifelten / an der Verzweiflung zweifeln / ungeduldig gedul¬dig / im namen der unbelehrbaren / lehren«. Enzensbergers Gedicht ist für mich ein sehr höchst respektvolles Por¬trät. Das Porträt setzt, bei aller Ehrerbietung, einen Schlußpunkt: Der Schüler, der sich herausnimmt, seinen Lehrer zu porträtieren, hört auf, ein Schüler zu sein. Adorno ist kein Modell mehr für Enzensberger, und bald wird auch sein Einfluß auf die intellektuellen Nach¬wuchskader zurückgehen, die jetzt noch eifrig bemüht sind, seinen Stil nachzuahmen. Es brechen aufgeregte Zeiten an, in denen sich keiner mehr damit begnügen möchte, geduldig den Schmerz der Ne¬gation festzuhalten.

JOSÉ GALISI FILHO– Der Abschied der kubanischen Erfahrung signalisiert zugleich den Abschied der Avantgarden ab Mitte der 60er Jahre. Wie versteht Enzensberger die Aporien dieses Prozesses?

Jörg Lau - Also zunächst mal – darauf habe ich ja schon hingewiesen – war er derjenige, der geholfen hat die künstlerische Avantgarde, die klassische Avantgarde in der Literatur in Deutschland wieder heimisch zu machen. Es war eine Art Wiedereinbürgerung der zum Teil vertriebenen Dichter, aber auch derjenigen, zu denen man den Kontakt abgebrochen hatte, weil die Entwicklungen, die in der spanischsprachigen Welt, in der englischsprachigen Welt, in der französischen Literatur vor sich gegangen waren in den 20er und 30er Jahren, diese Entwicklungen, von denen waren die Deutschen lange abgeschnitten, mindestens in der Zeit des Nationalsozialismus. Und Enzensberger hat angefangen, dass wieder ins Bewusstsein zu heben. Und er hat in seiner eigenen Literatur, die er selbst geschrieben hat vor allem in seinen Gedichten auch daran angeknüpft. Was die deutsche Tradition betrifft, eben an Brecht und Benn als seine beiden Paten – kann man sagen. Und dann ist im Sinne der Avantgarde, im umfassenderen Sinne, in dem man von Avantgarde sprechen kann, wenn man darunter jetzt nicht nur die künstlerische Seite sieht, sondern Avantgarde im Sinne von gesellschaftlicher Vorreiterrolle der Künstler und Intellektuellen: Da hat Enzensberger eine Entwicklung durchgemacht, die wahrscheinlich auch durch die Dinge, über die ich schon gesprochen habe, sein eigenes Engagement und die Enttäuschungen, die er erlebt hat, zu einer großen Skepsis auch geführt hat, ob es denn wirklich so ist, dass die Intellektuellen und die Künstler die Avantgarde in einer Gesellschaft sind. Das wird er wohl heute sehr viel skeptischer beantworten, als er das in den 50er Jahren selber praktiziert hat. Also er glaubt, dass das auch eine Selbsttäuschung der Schriftsteller ist sich vorzustellen, dass sie die Avantgarde seien und dahinter trottet die Gesellschaft her. Er hat einen Aufsatz geschrieben –, das war schon relativ früh, ich meine, das ist schon Anfang der 60er Jahre gewesen -, wo er diese ganze Metapher der Avantgarde, die ja aus dem Militärischen kommt - die Avantgarde ist die Vorhut einer Truppe, die das Gelände erkundet und dann kommt das Fußvolk -, wo er diese ganze Metaphorik schon stark kritisiert. Er hat als einer der ersten unter den deutschen Intellektuellen angefangen zu beobachten und zu fragen, wo ist denn vielleicht die Gesellschaft in ihrer Diversität, in ihren vielen Gruppen und vielen differenzierten Bereichen schon weiter als die Intellektuellen und wo ist dieser Anspruch, Avantgarde zu sein, vielleicht völlig vermessen. Ist nicht die Literatur vielleicht mit Luhmann - könnte man sagen – ein System unter anderen, das überhaupt gar nicht vorne ist, sondern dass sie nur eine ganz spezielle Art und Weise ist, Dinge zum Thema zu machen und zu beobachten. Eine besondere Art, eine besondere Perspektive oder – sagen wir - eine besondere Wertsphäre, um im Jargon der Soziologie zu sprechen, aber nicht ein System, das über alles Bescheid weiß. Und sozusagen die Vorstellung, man müsste nur den Dichtern die Macht geben, dann würde alles gut in der Gesellschaft, von der hat er sich völlig verabschiedet. Und manche seiner Kollegen haben aber diese Idee noch immer. Also wenn man z.B. Günther Gras nimmt: Günther Gras hat ein ganz ungebrochenes Verhältnis zu diesem Avantgardebegriff und er sieht sich mit Sicherheit als jemanden, der vorne weg ist oder der von einem besonders hohen Punkt aus die Gesellschaft beobachtet und den Überblick hat und zu jedem Thema einen Kommentar geben kann und am besten wäre es, es würde sofort auch befolgt, und dann würde alles gut in Deutschland und der Welt. Enzensberger spricht nicht so. Enzensberger spricht viel skeptischer über seine eigene Position.

JOSÉ GALISI FILHO- Im Rahmen der Besprechung des Gedichtbandes "Der Untergang der Titanic" widerstehen Sie der Versuchung, diese etwaige Schwäche irgendwo in seinem Privatleben aufzuspüren, und geben sich damit zufrieden, dass der Dichter selbst im "Dreiunddreißigsten Gesang" des Bandes sich über die eigene Souveränitätsgeste mokiert, "über den absurden Wunsch, selbst auf verlorenem Posten immer alles unter Kontrolle zu halten." Können Sie diesen Zusammenhang mehr erläutern?

Jörg Lau - Dieses zentrale Bild, um das das Buch kreist, also der bekannte Vorfall Untergang der Titanic, das hat viele Dimensionen in diesem Buch. Zum einen liegt es ja ganz auf der Hand: Es passt zu diesem... Es ist in den 70er Jahren geschrieben worden, Der Hintergrund ist worauf ich schon hingewiesen habe: Enzensbergers persönliche Enttäuschungen mit diesem kubanischen Experiment, aber in den 70er Jahren gab es ja noch andere Gründe für Skepsis und Pessimismus: Das war das ganze Thema der Ökologie. Sie erinnern sich an den Bericht des Club of Rome, der damals großes Aufsehen erregte. Da ging es um die schwierige Zukunft der ganzen industriellen Welt, die Ressourcen. Man hatte apokalyptische Ängste, dass Umweltverschmutzung und – was weiß ich – das Ende der natürlichen Ressourcen und die Rüstung usw., dazu führen könnten, dass dieses ganze System der westlichen Welt im Grunde in seinen eigenen Untergang schlittert. Und auch dafür war die Titanic das Bild. Das war gewissermaßen die Ankündigung des Untergangs: Ein Schiff, das angeblich unsinkbar ist, und in dieser schnellen Fahrt dann einem Eisberg zum Opfer fällt. Und der Untergang, von dem die Rede ist, der ist ein möglicher Untergang großer Hoffnungen, die sich auf die Politik beziehen, aber es ist auch der persönliche Untergang Enzensbergers, der in seinem kubanischen Erlebnissen – er hat das Buch ja angefangen in Kuba zu schreiben – sein ganzes persönliches Glaubenssystem auch untergehen sieht. Und aus diesem Untergang versucht er eine neue Hoffnung zu begründen, die aber nicht wieder irgendwie ein anderes System jetzt einfach ist, sondern reflektiert, was eigentlich passiert ist in diesem Untergang. Also es kreuzen sich in diesem Buch Linien aus der gesellschaftlichen Debatte der Zeit der 70er Jahre, diese apokalyptischen Ängste damals, persönliche Erfahrungen von Enzensberger mit seinen eigenen gescheiterten Hoffnungen. Und es ist eigentlich eine hochartifizielle Verarbeitung dieser Zeitstimmungen damals auch. Eine wirkliche Untergangsstimmung war ja da. Also es gab - vielleicht auch noch wichtig zu erwähnen - in Deutschland das Thema des Terrorismus. Man hatte auch den Eindruck... Ja, ja. Und es typisch für Enzensberger: Er nimmt das Thema dieser Apokalypse auf, aber er gibt ihm auch einen ironischen Dreh. Er macht eben Kunst daraus. Das ist wahrscheinlich sein bestes Buch und sein größtes Kunstwerk – kann man sagen -: Diese Dichtung, in der ja ganz verschiedene Stimmen auch sprechen. Das wird ja auch zum Teil auf der Bühne aufgeführt, dieses lange Gedicht, was sich sehr anbietet, weil es verschiedene Sprechweisen gibt, verschiedene Stimmen. Man kann das durch verschiedene Sprecher und Chöre auch vortragen lassen. Es hat etwas sehr Musikalisches, es hat etwas sehr Anschauliches.

JOSÉ GALISI FILHO- Wie bewerten Sie die These des molekularen Bürgerkriegs in bezug auf Brasilien?

Jörg Lau - Also ich habe das so verstanden, dass er eigentlich so sieht... Es war ja eine Pointe bei dieser Bürgerkriegstheorie, dass dann diese merkwürdig starre und geordnete Welt in Westeuropa, in Deutschland im Besonderen, die ja im Grunde ein Effekt des Kalten Krieges war, also einer Konfrontation von planetaren Ausmaßen,... dass diese geordnete Welt im Grunde längst zusammenbricht und dass Elemente von - aus unserer Sicht in Westeuropa gesprochen – Unordnung, wie man sie in anderen Gesellschaften längst kennt, bei uns auch dann Einzug halten. Also z.B. diese Formen von Gewalt, die er dort beobachtet, die überhaupt nichts mehr zu tun haben mit früheren Formen von politischer Gewalt, wo man einen bestimmten Sinn erkennen kann, wo Leute etwas erreichen wollen, wo es um etwas geht. Diese Gewalt, die er beobachtet, in diesen sog. molekularen Bürgerkriegen, die sich auch in... Nehmen Sie einfach mal, was gestern nacht passiert ist hier in Berlin zum 16. Mal: der 1.Mai. Diese Art von Gewalt, die würde – glaube ich – Enzensberger so dazu zählen. Das ist etwas Elementares, was überhaupt keinen Sinn hat in der klassischen Vorstellung von – was weiß ich – Straßenkampf in den 20er Jahren, wo es um bestimmte politische Ziele ging. Das ist eine... Es ist tatsächlich so ein bisschen wie eine Befreiung der Triebe und eine Enthemmung. Und man kann ähnliche Phänomene in diesen Gesellschaften beobachten. Und er hatte – glaube ich – damals den Eindruck,.. Das war auch... Es gab auch eine... Dies hier wird ja sozusagen links wahrgenommen, denn es sind sog. Autonome und linksradikale Kräfte, die das veranstalten. Aber Anfang der 90er Jahre waren die schlimmsten Gewalttaten, die wir erlebt haben, rechts orientiert, also Fremdenhass. Sie erinnern sich an die Attacken gegen die Asylantenheime und... Genau, Rostock. Und diese Phänomene hatte Enzensberger damals im Blick, als er diese These vom molekularen Bürgerkrieg aufstellte. Und ich glaube, diese Momente von Unordnung, Anomie oder wie man es nennen will, in denen hat er Dinge wiedererkannt, die er dann auf Reisen anderswo schon kennen gelernt hatte, auf seinen Reisen in sog. Entwicklungsländer oder in der sog. Dritten Welt. Und er hatte den Eindruck, dass das im Zentrum unserer Welt auch zu einem bestimmenden Faktor wird. Und... Ja, es gab einen Streit darum, ob diese Diagnose zutreffend ist. Ich glaube, er hat es etwas übertrieben. Aber zweifellos kann man solche Phänomene wie z.B. die... Ja, er hat auch noch Al Quaida in diesem Zusammenhang gesehen. Da bin ich nicht ganz so sicher, weil er meint ja, die Überzeugungen, die diese Leute vorgeben zu haben, die sind gar nicht so wichtig. Im Grunde seien das auch Nihilisten. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass ist ein Missverständnis, eine Fehldeutung. Dieses Selbstmordattentat, es ist nicht die reine Todessehnsucht, die diese Leute treibt, sondern die arbeiten schon für gewisse Ziele. Naja, politisch nicht in dem klassischen Sinne, dass man darüber auch verhandeln könnte oder dass das auch Teil eines Parteiprogramms sein könnte. Das nicht. Es ist ein wirklicher Angriff auf das Herz unserer Vorstellungen von Politik und von Verhandlungen, von Politik, die man überhaupt in institutioneller Form betrieben kann. Es wird auf das Herz davon gezielt, auf das Vertrauen überhaupt in Gesellschaft. Das Ziel ist schon, Panik auszulösen. So ähnlich wie... Insofern berührt sich das mit dem nihilistischen Terrorismus: Man möchte den Staat dazu provozieren sich so zu zeigen, wie er angeblich im Kern schon ist. Also man möchte damit etwas zum Vorschein bringen. Aber ich glaube, dass man das unterscheiden muss von diesen Formen von Gewalt wie – sagen wir – hier am 1.Mai oder in irgendwelchen U-Bahnen oder auch vom rechtsradikalen Terrorismus in Deutschland. Also es schien mir etwas zu sehr in einen Topf geworfen. Aber man muss sagen, also Enzensberger ist einer der ersten, die überhaupt erkannt haben, dass das ein wirkliches, gravierendes Problem unserer Gesellschaft ist, diese neue Welle der Gewalt, und dass das eine andere Form von Gewalt ist, als man sie früher kannte.

JOSÉ GALISI FILHO- Warum ist die Figur Diderots nicht einmal in Ihrer Biographie am Rande behandelt?

Jörg Lau - Das ist eine Frage zu meinem Buch? Warum ich diese Dinge nicht so behandele? Ja, also ich... Zur Folie des Verschwindens – glaube ich - habe ich einiges gesagt. Ich habe manche Dinge weggelassen, das ist richtig. Ich habe über Diderot nicht viel gesagt, außer dass er das auch übersetzt hat und so. Und in der Tat kann man sagen, ist Diderot natürlich ein großes Modell auch für ihn, gerade der Herausgeber der Enzyklopädie und der auch Verleger war und auch Übersetzer und so. Das ist richtig. Das kann man kritisieren. Da hätte man vielleicht mehr daraus machen können. Mir kam es ja darauf an, in dem Buch vor allen Dingen zu zeigen, wie Enzensberger als ein deutscher öffentlicher Intellektueller in diesen vorhandenen Rollen, die es gibt für deutsche Intellektuelle, agiert, wie er das verändert, wie er das neu definiert. Und da musste ich dann irgendwo auch Dinge einfach vernachlässigen. Überhaupt ist es so, ich habe erst bei der Arbeit für das Buch bemerkt, dass er noch viel mehr gemacht hat, als ich ohnehin schon dachte, und dass es eine unendliche Menge von Material gibt, über das man endlos reden könnte. Also die vielen, vielen Dinge, die er in den Zeitschriften gemacht, die er herausgegeben hat, die er übersetzt hat: Es ist fast unerschöpflich.

ARTE Dokumentation Mein Leben - Hans Magnus Enzensberger

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