quinta-feira, 15 de dezembro de 2011

Alexander Kluge - Die Aktualität Adornos - Dankesrede zur Verleihung des Adorno Preises 11.09.2009, Frankfurt


Liebe Frau Oberbürgermeisterin,
lieber Friedrich Kittler,
liebe Anwesende!

Sie können sich denken, dass dieser nach T. W. Adorno benannte Preis bei mir eine starke Emotion auslöst. Ich habe Adorno in Frankfurt als junger Jurist kennengelernt, als ich 24 Jahre alt war. Auch die früheren Träger dieses Preises Jürgen Habermas, Michael Gielen, György Ligeti, Jacques Derrida - und für mich als Filmemacher der Meister – Jean Luc Godard, spiegeln mir Stücke meines eigenen Lebens und meiner Arbeit wieder.

Am Anfang meines gemeinsam mit Oskar Negt geschriebenen Buches ÖFFENTLICHKEIT UND ERFAHRUNG (1972) steht, etwas verklausuliert, eine Widmung: 11. September 1903, 6. August 1969. Das ist der Geburtstag von Theodor W. Adorno, den wir heute feiern, und sein Todestag. Adorno wäre heute 106 Jahre alt geworden. Sein Tod liegt 40 Jahre zurück. Weil er aber in seinen Schriften und Kompositionen und im Herzen von uns, die wir ihn kannten, nicht gestorben ist, will ich versuchen, ihn hier in der Paulskirche herbeizurufen, ich will einige Worte zur Aktualität Adornos sagen, indem ich einige seiner Gedanken und die Art seiner Verknüpfungsnetze nachahme.

Dass das Datum seines Geburtstags im öffentlichen Bewusstsein mit der Nachricht von einem großen Unglück in New York verbunden ist, hätte Adorno verblüfft.

Wie würde er mit dieser Wahrnehmung umgehen? In Unheil ist er nicht verliebt. Vielmehr spricht er von einem Anti-Realismus des Gefühls, mit dem wir Menschen ausgestattet sind, das sich gegen die Wahrnehmung eines Verhängnisses zunächst wehrt. Die Phantasie ist ein Fluchtwesen. Nur ideologisiert, also gezwungen, so Adorno, sucht die Phantasie die Sensation. In der Fülle der Nachrichten wäre ihm, vermute ich, eine Einzelheit aufgefallen: die Handys. Unter der Ruine der Türme soll es Kavernen, Höhlen, gegeben haben, ähnlich wie in Herculaneum und Pompeji und dort sollen noch Menschen kurze Zeit überlebt und Funkkontakt nach draußen gesucht haben. Die Frage taucht auf: Hätte es Auswege, Rettung, geben können? Mitten in der Katastrophe? Bagger und Kräne, die rasch zur Verfügung standen, konnten nicht auf den Trümmerberg hinauffahren. Sie konnten nicht nach den Verschütteten graben. Ihr Gewicht hätte mögliche Höhlen zerdrückt.

Es gab aber – ich versuche Adornos vermutlicher Assoziation zu folgen – eine große Stahlfirma in den USA, die Bechtel International Instruments Inc., in San Francisco. Sie hatte eine Art überwölbender Metallbrücke vorrätig, die groß genug war, das Trümmerfeld zu überbrücken. Von ihr aus hätte man graben können. Diese Hilfe wurde angeboten, aber kein Zuständiger war da, darüber zu entscheiden. Heute ist diese Konstruktion verkauft worden an die Ukraine, mit Spendenmitteln bezahlt, und sie überdeckt den sogenannten Sarkophag von Tschernobyl, ein brüchiges Betongrab, errichtet in der ersten Stunde der dortigen schrecklichen Havarie.

Adorno hätte aufgrund seiner Verknüpfung, motiviert durch den Eindruck des Schreckens (bei der Wahrnehmung eines Datums, das den eigenen Geburtstag, den eines Glückskinds, völlig verändert) zwei verschiedene Unglücke miteinander assoziativ vernetzt und er würde nicht zögern, wiederum die Havarie von Tschernobyl und die in diesem Jahr, 2009, uns beschäftigende Finanzkrise als Ereignisse ähnlicher Besonderheit miteinander zu verbinden. Sie sehen, wie er die Einzelheit, die Besonderheit und das Allgemeine immer aber auch die Korrektur durch das subjektive Gefühl zueinander fügt. Das Allgemeine, das Tschernobyl, die Finanzkrise und vermutlich sogar den Terror vom 11.09. miteinander verknüpft liegt darin, dass zuvor Wirklichkeit abgewählt wurde. Etwas unbeachtet blieb. Es handelt sich um den sog. Ausgrenzungsmechanismus.
Etwas bleibt, wie die 13. Fee im Märchen der Brüder Grimm, draußen und kommt als Rächer wieder. Daher, so würde Adorno fortfahren, ist es richtiger, den Unfall der Finanzkrise nicht bloß mit dem Crash von 1929, sondern mit der Havarie eines Kernkraftwerks wie Tschernobyl zu vergleichen. In beiden Fällen geht es um Unglücke, die viele für unwahrscheinlich hielten und die extrem hohe Folgen auslösen. Wenn man ein Verhängnis wahrnimmt, ist für Adorno die erste Frage, was zuvor unbeachtet blieb. So arbeitet Adornos Kopf, der auf seine Sinnlichkeit vertraut und während er wahrnimmt, sogleich mit der Philosophie beginnt. So arbeitet ein Seismograph. Ein solcher Mensch, das würde Adorno behaupten und ich folge ihm getreu, verhält sich in seiner Beobachtung praktisch.

Es zeigt sich, dass eine Theorie, die von der Dialektik der Aufklärung spricht und eine Erkrankung der Vernunft von altersher und in der Moderne diagnostiziert, kein System der Schwarzmalerei darstellt und ein solches auch nicht vorschlägt. Bei genauer Beobachtung sind immer auch Elemente der Rettung – entweder bevor das Verhängnis stattfindet oder während es stattfindet oder durch Lernen und Umkehr nach dem Unglück – festzustellen. Aber diese Elemente liegen verstreut auseinander. Unsere geschichtliche Erfahrung besagt, dass sie selten oder nie bisher rechtzeitig zueinander finden.

Es ist Verknüpfungsarbeit (und wenn eine Weberin vernetzt, nennt man das Text) notwendig, um das Nebeneinander von Rettung und Verhängnis, die Heterotopie, wahrzunehmen. Man muss das Allgemeine, das Besondere und die tückische Einzelheit drehen und wenden, wie es die Spinnerin Arachne bei Ovid mit ihren Netzen tut. Mann muss die Fakten zu einer Erzählung zusammenfügen. Erlöst die Fakten von der menschlichen Gleichgültigkeit! Arachne textet nämlich in die Gewänder von Menschen und Göttern, deren zweite Haut, eine Verdopplung der Realität: die Einfühlung und die Auswege, hinein.

Das Stahlgerüst von Bechtel gehört in dieser Hinsicht in kein System. Es ist unerwartet vorhanden. Ein Reparaturgerät, ein Fragment der Wirklichkeit. Man muss die Hoffnung, dass es Überlebende geben möge, dass wenigstens ein Stück des Unglücks ungeschehen bliebe, in sich zuspitzen, damit rettende Elemente zueinander finden. Kritik ist deshalb nach T.W. Adorno kein bloßes Schriftgut, kein Rechthaben in Form von Büchern gegenüber anderen Büchern, sondern konsequente aktive Reparaturarbeit. Kritik setzt Gegenproduktion gegen falsche Produktion voraus und findet nicht nur in den Akten der Geistesgeschichte statt.

Wie sieht Adorno aus? Ich saß 1956 in der Antrittsvorlesung des Altphilologen Prof. Patzer (Sie können diesen Gelehrten in meinem Film ABSCHIED VON GESTERN sehen). In der Reihe vor mir sitzt ein keineswegs großgewachsener Mann, wenig Haare, von intensiver Aufmerksamkeit, ungewöhnlich große Augen. Ich kannte ihn nicht. Ich habe ihn wohl angestarrt, sodass er zurückblickte und mich fragte, wer ich sei. Ich antwortete: Sie sind wohl Adorno. Ich kannte von ihm nur das, was Thomas Mann über ihn geschrieben hatte.

Ein freundlicher, kommunikativer Mensch der Gegenwart: T. W. Adorno. Zugleich aber von hoher Unbestechlichkeit und auch einem strengen Ernst, wenn es um seine Arbeit geht. Sie müssen versuchen sich vorzustellen, wie ruhig seine Hände bleiben, wenn er spricht und vorträgt. In einem zweistündigen Vortrag hat er die Hände nicht einmal bewegt, um sie als Ausdruckshilfe zu verwenden. Sie liegen ruhig da, während die Gedanken sein Hirn durchstreifen und sich uns, den Zuhörern, zuwenden. Auch die Gesichtszüge sind vollkommen ruhig. Nur die Augen sprechen. Keine überflüssige Nutzung der mehr als 200 Gesichtsmuskeln, über die ein Mensch verfügt. Ich kenne Abbildungen von Babyloniern, bürgerlichen Menschen von vor
4 000 Jahren. Sie sind ihm ähnlich. Er kommt von weither zu uns.

Um ihn näher zu beschreiben möchte ich einen Kernpunkt seines Denkens anführen. Sie kennen den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant: jeder moralische Mensch soll seine Taten so einrichten, dass sie Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnten. Friedrich Nietzsche hat dieses Prinzip radikalisiert: handle stets so, dass du selber dein Verhalten ertragen könntest, wüsstest du, dass du deine Taten auf ewig wiederholen müsstest. Das ist äußerst praktisch gemeint. Siegmund Freud hat den gleichen Gedanken variiert: gegen das Verhängnis, die Fortsetzung des Fluchs in uns, das Böse, hilft nichts als die Allergie, der Kritik der Haut, nicht bloß der des moralischen Kopfes können wir vertrauen.

Adorno empfände vermutlich den Satz Nietzsches lebendiger und praxisnäher als die Formulierung Kants, aber Nietzsches Satz wäre ihm zu existenzialistisch, d.h. neben der Sache, gemessen an der praktischen Erfahrung in den 40-er Jahren des 20. Jahrhunderts. Adorno setzt also einen praktischeren und entschiedeneren Maßstab voraus. Öffentlicher Ausdruck (einschließlich Lyrik), Lernen und Bildung, ja jede Lebensäußerung, sagt er, steht unter dem Postulat, dass Auschwitz sich nicht wiederholt. Liebe Anwesende, Sie sehen in diesem Imperativ Adornos seinen Satz wiederholt: es gibt keine Praxis ohne Theorie. Das Verhängnis, das falsche Leben, ist der Motor von Gegenoperationen in der Theorie, zu der ja auch die Urteilskraft zählt. An Theorie wiederum (auch wenn sie selbst und für sich kein Treiber ist) orientiert sich die veränderte Praxis spontan, so wie sie von ihr erfährt.

Der legendäre Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ heißt nirgends bei Adorno: wir wollen abwarten bis richtiges Leben kommt. Er bedeutet viel mehr: es gibt überhaupt kein Leben, wenn wir das Verhängnis, das, was Auschwitz (und alles, was heute und in Zukunft anders aussieht, aber Auschwitz wiederholt) ausmacht, nicht brechen. Das falsche Leben ist machtvoll und hermetisch und zugleich -gemessen an der historischen Ausstattung von uns Menschen - unwirklich und löcherig wie ein Schwamm. Adorno formuliert es so:

„Man darf sich weder
Von der Macht der Anderen
Noch von der eigenen Ohnmacht
Dumm machen lassen.“

Was heißt „entdummen“? Im Lateinischen heißt das Wort für den Prozess der Bildung: eruditio: aus dem rohen Holz etwas in einen geformten Zustand bringen. In diesem Begriff liegt in Nordwest-Europa ein Stück Pathos. Der Gelehrte Alkuin hat am Hofe Karls des Großen nach diesem Prinzip Schulen entwickelt. Im 11. Jahrhundert werden glanzvoll die Universitäten Paris, Bologna und Oxford gegründet. Es gibt zu dieser Zeit, Theologen und Juristen begründen das, eine 3-Gewalten-Theorie: Die Kirche, die bewaffnete Macht (die Ritter) und die Wissenschaft, heißt es, sind gleichrangige Mächte: sacerdotium, regnum, studium. Dem entsprechen symbolisch die drei Blätter des französischen Königswappens, die der Lilie.

Dieser frühe auf Bildung gestützte selbstbewusste Aufbruch Europas ist bald wieder zu Grunde gegangen. Er kehrt in unserem Land in der Klassik um 1800 einen kurzen Moment wieder. Man muss sich vor Augen führen, dass die barbarischen Zeiten in der Geschichte die Mehrheit haben. Für die längste Zeit der Geschichte der Menschheit ist die Sklaverei der Normalzustand. Erst spät, und zuerst nur in den Städten Nordwest-Europas, stellt sich der Begriff der Freiheit der von der Rechtsordnung anerkannten Sklaverei entgegen. Der Boden unserer modernen Zivilisation, das hört Adorno nicht auf zu betonen, ist dünn und unbefestigt.

Wir müssen, würde Adorno sagen, wenn er hier neben mir stünde, den Begriff der eruditio neu untersuchen. Der Naturzustand, das krumme Holz, aus dem Menschen gemacht sind, ist nicht dumm. Das Verhältnis der gebildeten Lehrer zu denjenigen, die sie bilden sollen oder besser, in denen etwas zur Bildung drängt, bedarf einer Korrektur. Max Horkheimer hat einmal gefordert, dass es für das Institut für Sozialforschung, die Trägerinstitution der Frankfurter Kritischen Theorie, neben den Sozialforschern und Philosophen auch Ärzte und Geburtshelfer geben müsste. Die Kunst der Hebamme, die Matromäeutik, weiß, dass die Neugeborenen das Ihre zur Geburt spontan leisten. Es geht um Hilfestellung, nicht um Formung, eruditio. Am Embryo ist nichts rohes Holz, alles davon ist Potenzial; es ist Leben.

In der Dialektik der Aufklärung gibt es einen versteckten Text (im Anhang): GENESE DER DUMMHEIT. Die Intelligenz, die wache Neugier, das Herz der Philosophie ist dort mit dem Fühler einer Schnecke verglichen. Das ist eine Eigenschaft, die Jeder hat, nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere. Dieser wache Geist „wagt sich nur zaghaft hervor“. Wird er verletzt, d. h. bedrohen ihn Schrecken oder Terror, zieht er sich ins Schneckenhaus zurück. Das sieht dann äußerlich wie Dummheit aus. Es wirkt sich auch als Trägheit, Passivität, d.h. dumm aus, ist in seiner Substanz aber lediglich ein anderer Aggregatzustand des Lebendigen.

Ich kenne kein schöneres Gleichnis für den Leitsatz der Aufklärung: sapere aude! Habe den Mut, dich deiner sinnlichen Gewissheit selber zu bedienen, als dieses Bild der feinfühligen Schnecke, das Bild des defensiven Charakters der Intelligenz. Dieser Charakter ist immer gegenwärtig, auch wo wir ihn nicht sehen. Ihn zu locken, seinen Mut zu stärken, ist Bildung. Eine Zauberkunst, eine Verführungskunst, eine ars amatoria, wie es Ovid nennt. Das ist der wesentliche Kern meines neuen Buches, heute erschienen, das ich ausdrücklich Adorno (und außerdem Niklas Luhmann) widme.

Das führt zu einer, herausfordernden Fragestellung, die Adornos Werk überall zugrundeliegt: es gibt einen eigenständigen Zugang der Liebesfähigkeit zur Aufklärung. Wenn die Vernunft erkrankt ist, welche menschlichen Kräfte enthalten ein Gegengift?

Immanuel Kant spricht in Bezug auf die Vernunft von dem „zärtlichen Keim“, den die Natur uns eingegeben hätte. Deshalb sollten wir mit dieser Ressource, mit dieser Eigenschaft nach authentischer Lebendigkeit zu suchen, lebhaften Gartenbau betreiben. Er spricht von einem „zärtlichen“ und nicht bloß von einem „zarten“ Keim. Er meint, wie Adam Smith und David Hume, die Einfühlung. Alle Texte von Theodor W. Adorno handeln direkt oder indirekt von dieser Spur, DEM ZÄRTLICHEN KEIM, von dem wir nicht beurteilen können, ob er auf einem erotischen oder auf einem wahrheitssuchenden Begehren beruht.

Es gibt keine Aufklärung ohne Glücksversprechen. Der Prozess der Aufklärung muss sich auf etwas gründen, das auf die eingeborene Glückssuche in uns Menschen antwortet. Die Behauptung, dass wir an die Stelle der erkrankten instrumentell gewordenen Ratio lebendige, das ausgeschlossene Dritte einbeziehende Fragment, Keimlinge, Samen, Stechlinge – Sie merken, dass der Ausdruck fehlt, aber die Sache durchaus verständlich bleibt – setzen könnten, ist jedenfalls nicht auf etwas Unmögliches gerichtet. Uns bleibt gar nichts anderes übrig als diese Spur zu verfolgen, wenn wir überleben wollen.

Wie macht man das praktisch? Offenbar hat das zu tun mit der Bauweise unserer Erfahrung. Erfahrungen macht jeder Mensch, aber ob er diese Erfahrungen mit Selbstbewusstsein verknüpfen kann, hängt davon ab, dass er die Erfahrung mit anderen teilt und abgleicht. Das ist eine Frage der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit, so Adorno – und ebenso Kant in seiner Vorrede zur zweiten Kritik -, sind die Wohnungen und Städte, die unsere Erfahrung als Wohnsitz braucht.

Das hat für Adorno mit einem seiner Hauptthemen zu tun, der Verschränkung von Inhalt und Form, der Kompetenz, einen Sachverhalt adäquat auszudrücken. Die Form, sagt er, erzeugt die Sache. Und die Sache regiert die Form. Vielfalt, Polyphonie und die Kategorie des Zusammenhangs (das Ganze ist das Unwahre, aber die Einzelheit ohne das Ganze ist ebenfalls nichts) ist keine Stilrichtung, sondern Bedingung für Emanzipation, Teilhabe und Stimmigkeit.

Adorno betont an allen Stellen die Autonomie der verschiedenen Ausdrucksformen, die uns historisch überliefert sind. Sie verhalten sich wie Monaden, zueinander blind, aber in ihrer Tiefe drängen sie zu den anderen Ausdrucksformen und tauchen unerwartet in ihnen auf. Das Buch in der Oper, die Emotion der Oper in der „Oper des 20. Jahrhunderts“: dem Film.

So enthält das Buch seit etwa 6 000 Jahren eine autonome Formenwelt des Gedächtnisses. Alle vertrauenswürdigen Autoren, selbst die, deren Bücher beim Brand der Bibliothek von Alexandria verlorengingen, bilden eine Konstellation, eine gemeinsame Partitur, eine Planetenbrücke durch die Zeit.

Ich höre, wie Adorno mir souffliert, dass es beim Lesen nicht bleiben kann. Es geht auch um das Hören. Ein antiker Autor wie Ovid, dessen METAMORPHOSEN an Vernetzung die modernen Online-Systeme mühelos übertreffen, hat seine Dichtungen in erster Linie mündlich vorgetragen hat. Die Vertrauenswürdigkeit des Ohrs ist etwas anderes als das Lesen. Wir finden diese Vertrauenswürdigkeit in der Moderne in der wohl einzigen authentischen Erfindung des Hörfunks, dem Hörspiel.
Die gleiche Vertrauenswürdigkeit des Ohrs besitzt die 400 Jahre alte Geschichte der Oper. Die 80 000 Opern, die es seit 1600 gibt, so Adorno, bilden untereinander eine Partitur. Als Gesamtheit sind sie gerade nicht monodisch, sondern polyphon.

Besonders jung ist die Filmgeschichte, gerade 120 Jahre. Meine Großmutter mütterlicherseits, geb. 1872, ist älter als sie. Adorno hielt den Film zeitweise für keine originäre Kunstform. Einerseits wegen der Herrschaft der Kulturindustrie, die im Filmgewerbe besondere Züge trägt, aber auch weil er der Überschätzung des Films durch Walter Benjamin misstraute. Ich behaupte, dass ich ihn am Ende dazu verführt habe, diese Auffassung zu korrigieren. Er hätte mir nicht widersprochen, dass es die bewegten Bilder und die Kunst der Montage schon seit der Steinzeit (oder seit Erfindung der Sprache) im Kopf der Menschen gibt, gleich ob sie wachen oder träumen. Diese Sprache der bewegten Bilder, dem hätte er zugestimmt, besitzt eine eigene Autonomie, die weder den Worten, noch den Musiknoten einfach gehorcht. Wenn ich sage, dass die Filmkunst das Echo davon ist, hätte er zugestimmt.

Jede dieser Traditionen, das Lesen, das Hören und das Verfolgen bewegter Bilder, eignet sich einen Sachverhalt auf verschiedene Weise an und verändert durch den spezifischen Ausdruck die Sache selbst. Wenn ich diese Eigenständigkeit von Form und Sache respektiere, entsteht eine polyphone Formenwelt, eine Vielfalt, d. h. authentischer Ausdruck.

Subkutan, d. h. unter der Haut, verlaufen die Verbindungen der Verständigung, die Unterwassertiere oder Partisanen agieren. Die Subjektivität ist der Anker des Objektiven. In solchen Positionen liegt für mich die Modernität Adornos.

Man kann Adorno nur verstehen, wenn man beide Spuren liest: 1. den entschiedenen und partisanenreichen Kampf gegen die Lügensysteme, die uns umgeben und 2. die unbeirrbare Hoffnung, dass notfalls in Form einer Flaschenpost, an irgendeiner Stelle unserer Strände Fragmente oder Kieselsteine von wahrer Lebendigkeit ankommen. Kinder, so behauptet Adorno, erkennen so etwas spontan. Was Sie jetzt noch hören werden, ist ein Klavierstück Adornos aus dem Jahr 1945.

In unseren Tagen erleben wir, dass sich ein Leitmedium wandelt. Unsere Öffentlichkeiten zeigen in aller Welt Erscheinungen des Zerfalls und der Neubildung. In unseren Tagen scheint sich das Leitmedium zu verändern. Zu Adornos Entsetzen ist das Fernsehen offenbar in den vergangenen Jahrzehnten zum Leitmedium geworden. Leitmedium ist das, was ich einschalte, wenn etwas Außerordentliches passiert. Zum Beispiel am 11.09. in New York, also heute vor 8 Jahren. Ich schlage in jenem Moment kein Buch auf. Ich setze mich nicht an das Klavier. Ich suche nicht das nächstliegende Kino auf, sondern ich schalte z. B. CNN ein. Ob ich dieses Medium liebe oder nicht, es besitzt das Vertrauen von Millionen Menschen, die den Ernstfall dort und nicht woanders verfolgen. So etwas ist ein Leitmedium.

Heute wandert dieses Vertrauen teilweise vom Fernsehen weg ins Internet, das schneller ist und an dessen Netz mehr Menschen beteiligt sind. Oft bewegt sich dieses Medium auch frischer.

Bei jedem Wechsel des Leitmediums geht es aber, wie bei einer aufgewühlten See, so verstehen Sie Adorno richtig, erneut um alle früheren Leitmedien und auch um Ausdrucksformen von Herz und Verstand, die in der Minderheit blieben und um so zäher überleben. Die Polyphonie, so Adorno, ist eine Eigenschaft aller gesellschaftlichen Verhältnisse oder anders formuliert: die Dialektik ist keine logische, sondern eine die Zeitabläufe verknüpfende Dimension.

Und so kommen aus der Zukunft klassische Anforderungen erneut auf uns zu. Wir brauchen mehr und stärkere Orientierungen der Öffentlichkeit, wie sie von den großen Zeitungen ausgehen, also der klassischen Öffentlichkeit. Wir brauchen das Buch und die unverrückbaren klassischen Texte dringender als zuvor. Die Gravitationskraft stimmiger Musik vermag Texte emotional in Bewegung zu bringen und verknüpft Fiktion und Dokumentation neu. Das brauchen wir, weil Wirklichkeiten wie die Finanzkrise oder asymmetrischer Krieg menschliche Lebensläufe direkt treffen und Menschen verletzen und zugleich, wie großartige Fiktionen, erscheinen. Um damit umzugehen und um in diesen Labyrinthen zu orientieren, braucht man nicht einen einzelnen roten Faden, sondern man braucht die radikale Ausdrucksvielfalt, die Adorno voraussetzt.
Ich möchte Ihnen am Schluss eine Geschichte erzählen, die Ihnen zeigt, wie die Wirklichkeit selber Vielfalt nebeneinander stellt und es von uns abhängt, ob sie zur Kooperation oder zum Robinsonismus führt. Im Wintersemester 1968/69 hier in Frankfurt, mitten in der Kampfzone studentischen Protests, in Adornos Todesjahr, übernimmt der Soziologe Niklas Luhmann die Vertretung von Adornos Lehrstuhl an der Johann Wolfgang Goethe Universität. Adorno brauchte ein Freisemester, er will seine ästhetische Theorie fertig schreiben. Sie alle können sich die Thematik des studentischen Protests vorstellen. Ganz abgewendet davon hält Luhmann das Adorno Vertretungsseminar mit dem Titel: „Liebe als Passion“. Vier Studierende sind Teilnehmer des Seminars. Draußen Besetzung des soziologischen Seminars, später des Instituts für Sozialforschung, revolutionäre Entwürfe. In dieser Zeit war Adorno von einer Geliebten verlassen worden. Er suchte persönlichen Rat bei Luhmann, wenn dieser schon seinem Seminar einen so vielversprechenden Titel gegeben hatte.

Das ist eine Momentaufnahme aus dem Arsenal der so erfindungsreichen Autorin, der Wirklichkeit. In einem solchen Laboratorium, in dem extreme Gegensätze dicht nebeneinander wohnen, entwickelte sich in der Achsenzeit der Antike (500 vor Chr.) die erste große Philosophie, entwickelte sich um 1800 die Weimarer Klassik und beinahe hätte es hier 1968 eine Frankfurter Klassik geben können. Es hätten nur vorhandene Geister wie Hans Jürgen Krahl, Luhmann, Adorno, Habermas eng zusammenarbeiten müssen. Von solcher Kooperation kann man sich in unserer Welt nicht genug wünschen.

Sie hören jetzt noch eine kurze Komposition von Adorno aus dem Jahr 1945.

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

Adorno - Es gibt kein richtiges Leben im Falschen

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