quinta-feira, 14 de março de 2013

Die Leiden der Augen von Dietmar Kamper


Ich beginne logischerweise beim Chaos. Das ist das Natürlichste. Ich bin dabei ruhig, weil ich fürs erste selber Chaos sein darf. Das ist die mütterliche Hand. Vor der weißen Fläche aber stand ich oft zitternd und zagend. Doch gab ich mir dann den bewußten Ruck und zwängte mich in die Enge linearer Vorstellungen.

Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, Stuttgart 1988


Es folgen einige Gedanken zu einer Gegengeschichte des produzierenden und kontrollierenden Blicks. In Rücksicht auf die Grenzen des Sehens gibt es nicht nur die seit Kant und Swedenborg bekannte Dichotomie von methodischer Beobachtung und hingerissener Vision, sondern von An­fang an eine unterschwellige Passionsgeschichte der Augen, die im >Zwischen< von Raum und Fläche spielt. Zwischen dem >Chaos< und der >Enge linearer Vorstellungen ge­schieht so viel: erlittene Täuschungen, Sehzwänge, Blen­dungen bis zur horrenden Unfähigkeit, überhaupt zu sehen, so daß Aufmerksamkeit angebracht wäre. Vermutlich ist es der Ort, an dem - angesichts der gesteigerten Perfektionie­rungen des Blicks bis zur Sehmaschine - ein letzter mensch­licher Stolz aufkeimen könnte, selbst für den Fall, daß die helfende Hand der Mutter ausbleibt. Wenn die Leiden der Augen unvermeidlich sind, sollten sie in Strategien verwan­delt werden. Nach dem Golfkrieg hat eine amerikanische Waffenfirma die eine Seite des Sehens lakonisch auf den Be­griff gebracht: first look, first kill. Es wird Zeit, von der an­deren Seite zu reden.



1. Die Leiden der Augen haben mit dem Zwielicht des Imaginären zu tun, das sich derzeit ausbreitet. Dieses Zwie­licht stellt einen Komplex dar, ist analytisch nicht genau zu erfassen, widersteht jedem Urteil und jeder Entscheidung. Es taucht in den Prozessen des Sehens selbst auf und ist doch ein Ergebnis von weit her. Die Bilder sind den Men­schen lebensnotwendig und tödlich; je lebensnotwendiger sie waren, desto tödlicher werden sie sein. Das ist nur eine Frage der Zeit. Offenbar schützen sie vor einem drohenden Verlust des Lebens, bevor überhaupt gelebt wurde. Ebenso klar ist, daß sie - als Bildschirme, Schutzschilde - zu einem tödlichen Gefängnis werden können, wenn sie überdauern. Was derart zeitlich für den einzelnen Menschen gilt, dem als Wesen, das zu früh geboren wird, die genannte Schirm- Hilfe zukommt, gilt, cum grano salis, auch historisch für die Menschen insgesamt. In der Ausbreitung des Zwielichts ist heute der Punkt erreicht, an dem eine eingeübte, lebensret­tende Strategie ihre Kehrseite zeigt: Zwänge, Zumutungen, Opferansprüche. Das Imaginäre ist geschichtlich ausge­reizt. Das Spiegelstadium führt von nun an einen Tod im Schilde. Man sollte es und mit ihm den gesamten faulen Zau­ber gespiegelter Identitäten und verkrampfter Einheiten verlassen.




2. Es ist übrigens nur noch wenig zu sehen, was zu sehen sich lohnt. Das Versprechen, ein Nie-Gesehenes sehen zu dürfen, gehört schon lange auf den Jahrmarkt und ist selbst dort verstummt. Kaum ein Mensch vermag sich heute noch an die Devise der Renaissance zu halten, daß einzig die Augen für das Elend der Existenz entschädigen (Leonardo: >Dem Auge ist’s zu danken, daß sich die Seele mit dem menschlichen Kerker zufrieden gibt, der ihr ohne Auge zur Qual würde<). Im Zuge dieser historischen Enttäuschung entfallen nach und nach die Künste des Sehens, sowohl jene eines unwillkürlichen Begehrens, wie sie herkömmlicher­weise als Träume, Visionen, Halluzinationen bezeichnet wurden, als auch diese einer willkürlichen visuellen Wahr­nehmung, vom detektivischen Blick bis zur mehrfach ge­filterten wissenschaftlichen Beobachtung. Ob nun durch Bildüberflutung oder durch die Beschleunigung des Er­scheinens und Verschwindens der Dinge, die Augen kom­men nicht mit. Die Einbildungskraft, im Mittelalter noch pure Passion, in der Neuzeit umgekehrt Hauptaktivität eines Subjekts mit leuchtenden Augen, versinkt wiederum in Leiden. Der Augapfel der Raumgenossen ist stumpfsin­nig geworden. Fast alles geht durch ihn hindurch, er hält nichts mehr an oder auf. Die Welt als Kugel, die ihm ent­spricht, entkoppelt sich dem Sehen. So bleibt das Ereignis, auf das alles ankäme, aus. Das ist insofern mißlich, als das, was heute wirklich der Fall ist, für unaussprechlich gelten muß und sich nur zeigen kann.



3. Die Neuzeit seit Leonardo da Vinci ist das Spiegelsta­dium der Menschheit. Sie hat ihre Erfahrungen auf Flächen abgebildet und wahrscheinlich wegen des Machtzuwachses eine hochartifizielle Aufteilung der Welt in Realität und Bild für natürlich gehalten. Indem aber dieser Effekt eines Willens zerfällt, geht eine fundamentale Orientierung verlo­ren. Die Welt als Bild mit der fein säuberlichen Unter­scheidung von Bezeichnetem und Bezeichnendem löst sich in einer Katastrophe des Sinns auf. Das bringt den Augen, auf die in dieser Sache fast alle Hoffnungen gesetzt wurde, neuartige Schmerzen. Wenn das Entscheidende sich näm­lich nicht mehr sehen läßt, wenn es sich im Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf der Jenseite abspielt, dann kommt alle Anstrengung, die auf Beobachtung setzt, zu kurz. Die eingespielte Untrüglichkeit der Augenkon­trolle hat dem Triumph der Simulation Platz gemacht. Lug und Trug, älteste Götter, herrschen wieder. Der oberste Grundsatz methodologischer Erkenntnis in der Neuzeit, weder andere noch sich selbst zu täuschen, scheitert ret­tungslos am Entzug des Fundaments. Täuschung ist unver­meidlich, weil das Entscheidende heute unsichtbar ist. Aber es ist nicht wie früher das Dunkle, das Drohende, die Gefahr aus der Finsternis. Das Unsichtbare ist das Transparente, das mit dem Licht seit Jahrhunderten zugenommen hat.



4. Ist also die Urszene, das, worauf beim Sehen alles ankäme, eine Fata Morgana? Reflektiert sich darin der suchende und forschende Blick und nichts anderes? Ist der Versuch, sich selbst als Ereignis zuvorzukommen, wie er das Unternehmen eurozentristischer Selbstbegegnung kennzeichnet, gescheitert? Solche Fragen müssen wohl mit Ja beantwortet werden. Nach Freud ist die Urszene das Motiv noch jeder Forschung überhaupt, nämlich herausfin­den zu wollen, was vor der Zeugung und der Empfängnis der Forschenden eigentlich war. Ein solcher Nebensinn von >Wo es war, soll ich werden< ist unerwartet, aber hilfreich. Die Urszene, das Ereignis oder Eräugnis schlechthin, kann nur als Schattenriß des Blicks stattfinden, der von außen darauf gerichtet ist. Ein Rendezvous mit dem Realen aber kommt nicht zustande. Die nackte Wahrheit lautet: tat vam asi. Auch das bist du. Das Ergebnis ist immer das Selbe, nie das Andere. Im Imaginären gibt es das Andere, den Anderen nicht. Hier läßt sich bestenfalls entdecken, daß Spiegel Spie­gel sind und keine Fenster. Der Satz, daß die Wahrheit ein Weib ist, wie Nietzsche gegen seinesgleichen markierte, wäre nur die halbe Wahrheit. Die ganze lautet: Das Weib ist ein Spiegel des Selben, in dem das Begehren zu wissen un­schwer sich selbst wiedererkennt. Anstelle dessen, was zu sehen einzig sich lohnen würde, herrscht in Reflexion und Analyse eine Phantasie.



5. Was sah der blinde Seher Teiresias, bevor er blind wurde? Die Alten hatten die folgende Geschichte parat: Er habe die Göttin Hera, Gemahlin des Zeus und die Mutter der Göttersöhne, beim Liebesspiel gesehen und er habe die­ses Eräugnis nicht für sich behalten können, sondern bei einer Wette, welches der Geschlechter wollüstiger sei, das männliche oder das weibliche, auf das weibliche gesetzt und sein Wissen verraten, denn - so Teiresias - er habe es gese­hen. Seitdem sind Seher blind. Das, was sie blendet, ist das unübertreffliche göttliche Genießen der Frau, bezie­hungsweise der Umstand, es entdeckt zu haben. Aber Seher werden nicht nur geblendet, sie kommen dadurch zum wirklichen Sehen. Die Leiden haben unter Umständen ein zeitgemäßes Nachspiel in der Vision mit geschlossenen Augen. Die Einsicht, wo sie durchkommt durch die Selbst­täuschung, kann vom Anderen Ort und Zeit wissen, auch für die Zukunft. Im Äußersten der leidenden Augen gibt es Untrüglichkeit, aber dann ohne sie, augenlos. Jacques Lacan hat auf die Frage: Was will das Weib? geantwortet: >jouissance<, ein intensives Genießen ohne Referenz, erfüllte Zeit, restlose Gegenwart - eine Antwort, die nicht ohne Blen­dung zu haben ist.



6. Es gibt noch eine andere Geschichte über die Grenzen des Sehens: die Geschichte von Artemis und Aktaion, vom Jäger, der zufällig Zeuge des Bades der Göttin und darauf von ihren Hunden zerstückelt wird. Das ist nicht die Geschichte des Voyeurs, der immer damit rechnet, entdeckt zu werden, sondern die eines Mannes, der auf der Jagd nach dem Wild aus der Spur der Normalität geworfen wird. >Ob- jekt des Begehrens im gewöhnlichen Sinnes schreibt Lacan, >ist entweder eine Phantasie ... oder eine Täuschung. < Ak­taion touchiert aus Versehen das Reale und wird aus einem Individuum in ein Dividuum zurückverwandelt. An ihm, der keine Zeit hat für Reflexionen, wird das kommende Schicksal des Spiegels deutlich, nämlich Zersplitterung. Die Göttin im Bade, Muster für die archaische Verbundenheit von Blick und Geschlecht, zerstört das spiegelnde Medium, das ein zufälliger Mensch darstellt. Wenn die Götter sich in der Einbildungskraft der Menschen spiegeln, splittern die Spiegel in tausend Stücke. Was bleibt, ist eine unerträgliche Alternative: Entweder erneut, wie vor dem Spiegelstadium, die Disparatheit der Körperteile oder die Blindheit des blindgewordenen Spiegels, der nichts mehr reflektiert.



7. Die Funktion des Bildes bezieht sich auf den mütterli­chen Blick, der wie alle anderen, die von außen kommen, böse ist. Das Bild ist Schutzschild und erhobene Grenze zu einer gleichgültig grausamen Mutter, die das Leben gab, um es wieder zu nehmen. Bei diesem Drama kommt es zur Opposition von Fläche und Raum, von Bildschirm und nicht mehr bergendem Schoß. Die Spannung haftet für immer den Bildern an: einerseits erste menschliche Tat, in der Abgrenzung von der Herkunft zu sein, andererseits Folie, die eher schlecht als recht die Lebensgefahr, die To­desgefahr abschirmt. Insofern besagt die einfache Tatsache, daß es ein Bild gibt, konfrontiert mit dem Betrachter, mehr übers Sehen als das, was auf den Bildern zu sehen ist. Von daher kann Roland Barthes das Bild der Mutter so akzentu­ieren, daß die Mutter als Bild gegenwärtig bleibt. Die älte­sten griechischen Sagen, die eine Transformation des Chaos in lineare Vorstellungen mittels blitzender Spiegel (Gorgo, Medusa) vollziehen, und der Nullpunkt der Literatur kom­men dahin überein, daß das Jenseits der Fläche, der Lein­wand, des Papiers der Mutterschoß der Geburten ist, Ort der Fertilität, Raum im Raum, Körper im Körper, Wurzel, Geflecht, Labyrinth. Wird diese Rückseite der Spiegel, die immerhin noch lange mit dem Teufel assoziiert wurde, ab­getrennt, gehen die Menschen in den Bildern verloren und sind auch sprachlich unerreichbar geworden.



8. Der Übergang der menschlichen Erfahrung aus dem Spiegelstadium in das Labyrinth der Sprache beginnt mit der Wahrnehmung der Monster. Was der Traum der Ver­nunft produziert hat, ist eine Welt der Phantome. Die zweite Schöpfung als Ersatz der ersten, die den Tod bereit­hält, läuft auf lauter unsterbliche, todesunfähige Gebilde hinaus. Die Stereotypie solcher Gestalten bildet den Fundus eines universalen Theaters der Erinnerung, das man leicht­hin Kultur nennt. Deren Status ist von Anbeginn unklar. Er ließe sich nur in einer Dämonologie hinreichend erörtern. Denn wie die Ungeheuer der ersten Art einer Ordnung der Hölle angehören, in der die Erde Rache nimmt für die Hin­terlist der Vernunft, so passen die Ungeheuer der zweiten Art, Produkte der menschlichen Einbildungskraft, die sich als träumende Vernunft mächtig ins Zeug gelegt hat, in eine transparente, schier himmlische Struktur. Der Mensch als Bild Gottes macht Bilder, die ihm gleichen, lauter Spiegel, die bestenfalls sein Antlitz zurückwerfen, zumeist aber ein Zerrbild des Selben und sonst nichts. Das aktuelle Bewußt­sein, insbesondere das wissenschaftlich aufgeklärte, ist von solchen Phantomen geradezu umstellt. Darin zeigt sich der Bruch des kontrollierenden Blicks, eine Verblendung, die jegliche Erfahrung unterbindet und ohne Verrücktheit nicht mehr wahrgenommen werden kann.



9. Die Entfesselung der Einbildungskraft im 20. Jahrhun­dert macht zugleich deutlich, was sie - gefesselt - produziert hat: die Grundlage einer menschlichen Welt im sensus com­munis der Sichtbarkeit. Durch die ekstatische Selbstre­ferenz der Zeichen auf der Bildfläche geht nicht nur die Herrschaft verloren, sondern auch die Bildfläche, auf die solche Herrschaft angewiesen ist. Die kürzer werdende Funktionsdauer der Bildträger macht sinnfällig, was à la longue sich vollzieht: die Erosion der Gründe. Der Austritt aus dem Spiegelstadium der Menschheit findet also auch unwillentlich statt. Es ist die vermeintliche Macht über das Imaginäre, an der das Marode nun auffällt. Ein Nihilismus der Transparenz läßt sich nicht aufhalten oder gar zur Ver­nunft bringen. Die Menschen sind zwar gelegentlich im Bilde, aber noch nicht auf der Welt. Dauerhaft werden sie sich nicht zufriedengeben mit den Phantomen. Das aktuelle Stillhalteabkommen zwischen der enttäuschten Selbstsuche und der Explosion der Medien wird aufgekündigt werden. Insofern sind Gedanken für eine postmediale Ästhetik nötig. Ein allfälliger Introitus wäre die nicht visuelle Wahr­nehmung des Anderen und der Zeit als eines Gegenlagers der Bildproduktion. Eine neue Epoche des Hörens ist ange­sagt. Die Totalität der Sinne ist nicht theoretisch umfassend zu halten, wohl aber im bejahten Fragment.



10. Der weithin obsessive Traum der Vernunft von der Unsterblichkeit kann heute als die Hauptquelle für den Haß auf das, was ist, was sterblich ist, denunziert werden. Schon deshalb bedarf es des Aufwachens. Gegen den Triumph des Lichts geht es um eine Rehabilitierung des Zwielichts, der Schattenrisse des clair- obscur, um eine durchgeführte Logik der Desillusionierung. Dabei bekommt man es zunächst wieder mit der Notwendigkeit zu tun, zwischen Visionen und Beobachtungen wählen zu müssen. Aber beides steht zur Disposition. Es ist die gewohnte Richtung des Ab­schieds vom Gegebenen, die fürderhin den Tod nach sich zieht. Die Transgression aus dem Gefängnis der Bilder führt nicht zurück in irgendein abgeschirmtes Reales. Das Ima­ginäre kann nur in Richtung der Sprache verlassen werden, promoviert durch ein Denken, das sich des Anderen und der Zeit bedürftig weiß. Alles, was sich heute noch bewegt, läuft auf eine Grenze zu, an der die Menschen wissen werden, warum das Entscheidende nicht gewußt werden kann. Es bleibt das Ereignis, das ausbleibt. Wer zum zweiten Mal vom Baum der Erkenntnis ißt, kann auf das Essen vom Baum des Lebens endlich verzichten.

Akademie der Künste, Berlin, 11.7.1991


In: Bildstörungen - Im Orbit des Imaginären. Karlsruhe, 1994, pp. 19-28. 

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