terça-feira, 13 de março de 2012

Deutschland Ortlos: Anmerkung zu Kleist Rede anläßlich der Entgegennahme des Kleist-Preises (Heiner Muller)


Ich bitte vorab um Verständnis dafür, daß ich über Kleist heute nicht viel sagen werde. Zu viel Aktuelles hält mich davon ab: Trauer um Vergangenes, Wut über Versäumtes, Affekte, die vom (herrschenden) Standpunkt der Ökonomie ein Luxus sind, aber für den Luxus leben/arbeiten wir, Neugier auf Kommendes. Und entschuldigen Sie, wenn es ein Monolog wird, ich habe mehr Fragen als Antworten und für Polemik keine Zeit.

Eine Zeitmauer ist gefallen, und wir alle stehen sozusagen über Nacht in einem Raum mit unbekannten Dimensionen, etwa in der Lage eines Blinden, der auf einer verkehrsreichen Kreuzung die Entdeckung macht, daß sein Leithund nicht mehr sieht, oder, wenn Sie wollen, wie Carl Schmitts berühmt-berüchtigter Hund auf der Autobahn, jedenfalls ineiner kleistischen Situation. Zur Autobahn gehört die Figur des Geisterfahrers.

Ein unheimlicher Satz aus Brechts Fatzerfragment, der mir in letzter Zeit nicht aus dem Kopf geht: WIE FRÜHER GEISTER KAMEN AUS VERGANGENHEIT / SO JETZT AUS ZUKUNFT EBENSO.
Für den Rheinländer Adenauer war die Elbe ein asiatischer Grenzfluß. Die kalten Schauer beim Uberqueren einer Elbbrücke in östlicher Richtung bestimmten seine Politik, die dem Sachsen Ulbricht den Hammer in die Hand gab, mit dem er Ost und Mitteldeutschland an das Kreuz des Stalinismus schlagen konnte,

oder, weniger pathetisch und näher an der Wirklichkeit, die den Gefangenen Stalins die Möglichkeit bot, die Bevölkerung der Kolonie DDR (genannt UNSERE MENSCHEN) gefangenzuhalten in der imaginierten Warteschleife des REAL EXISTIERENDEN SOZIALISMUS, ein Wort-Ungetüm, Walter Benjamins Bild vom Stalinismus, in einem seiner vergeblichen Svendborger Gespräche mit Brecht, als AUFTAUCHEN EINES GEHÖRNTEN FISCHES AUS DER TIEFSEE ist genauer.

Das Resultat war die fatale Verspätung der deutschen Einheit, das Tempo des Endspurts unterstreicht die Fatalität, weil es an die Stellet der Erfahrung wieder die Verdrängung setzt und den Befreiungsschub auffängt in einer neuen ökonomisch dominierten Warteschleife.

Das Preußen des Heinrich von Kleist ist eine Erdbebenzone, von Verwerfungen bedroht, angesiedelt auf dem Riß zwischen West- und Ostrom, Rom und Byzanz, der in unregelmäßigen Kurven durch Europa geht, blitzhaft sichtbar, wenn nach dem Verlust einer bindenden Religion oder Ideologie die alten Stammesfeuer neu gezündet werden. Einem Riß, in dem zum Beispiel Polen immer wieder verschwunden ist.
Die preußische Allianz mit Rußland gegen Napoleon war im Licht der späteren Geschichte eine Entscheidung gegen Europa. Der zu späte Versuch (den Deutschen geschieht Geschichte immer zur Unzeit, zu spät oder zu früh), 1848 mit Europa Tritt zu fassen, endete folgerichtig im nationalen und Klassenkompromiß der deutschen Militärmaschine nach dem HOMBURG-Modell IN STAUB MIT ALLEN FEINDEN BRANDENBURGS und zwei Weltkriegen.

Der Satz des jungen Marx DIE DEUTSCHEN ERLEBEN DIE FREIHEIT IMMER NUR AM TAG IHRER BEERDIGUNG galt schon für die sogeannten Freiheitskriege gegen Napoleon, die letzte Figur einer europäischen Zentralperspektive. Kleist, gegen alle familiäre oder patriotische Hemmung, wußte es mit Guiskard, Fragment einer Tragödie und Tragödie eines Fragments.

Danach begann mit Goya die absolute Malerei, die ein Reflex der Verwandlung des Globus in eine Landkarte war, der Emigration/Vertreibung aus der Zeit in den Raum, nach dem Kleist-Modell des Marionettentheaters, von Nietzsche als der Tod Gottes erfahren, von Marx beinahe zeitgleich als die Möglichkeit der Geburt des Menschen jenseits der Ökonomie,

in Wahrheit der erste Schritt, der vielleicht, wenn man von der zunehmenden Unbewohnbarkeit des Planeten ausgeht, ein Fortschritt ist, zur Aufhebung des Menschen in seiner Schöpfung, der Technologie, aus seinem Zeitraum in die Raumzeit, in der Hochzeit von Mensch und Maschine. Eine Abschweifung zu Kleist: bei der Lektüre seiner Briefe das Gefühl, nicht ohne Schrecken, einer ungeheuren Ferne, eines Abstands auch zu seinen eigenen Texten, seiner eigentlichen Arbeit, die nicht ah Personen adressiert ist, nicht an ein Publikum, der Vorwurf Goethes, nicht an einen Markt.

Kafka, der erste bolschewistische Schriftsteller, hat den Abstand formuliert. GESCHRIEBENE KÜSSE WERDEN VON DEN GESPENSTERN GETRUNKEN. Es handelt sich nicht nur um anonyme Abhördienste oder Briefzensur.

Die Zeit der Briefe und der Tagebücher als Ausdruck von Empfindungen endet mit der Elektronik, jeder sein eigener Spitzel, die Kunst ist die letzte Autonomie, vielleicht der letzte Bereich des Humanen, Kunstwerke sind Briefe höchstens an unbekannte Adressaten, notfalls aus anderen Galaxien. Ein anderes Zitat aus Brechts Fatzermaterial, geschrieben in der Erwartung von Hitler und Stalin, Auschwitz und Gulag:

WIR ABER / WOLLEN UNS SETZEN / AN QEN RAND DER STÄDTE / WARTEND / AUF DAS NEUE TIER / DAS GEBOREN WIRD / DEN MENSCHEN / AUSZULÖSEN. Das neue Tier schreibt keine Briefe, außer mit Telefax, das die Person auslöscht.

Im Ergebnis seiner Beobachtung des gescheiterten deutschen Versuchs von 1848, die Französische Revolution nachzuholen, die in Deutschland nur in der Literatur stattgefunden hatte, als Sublimation, sah der spanische Diplomat Donoso Cortez, nicht frei von Rassismus, die Hauptgefahr für Europa in der kommenden Allianz von Slawentum und Sozialismus.

Diese Allianz war, aus anderer Perspektive, aus der Einsicht in die Prägung russischer Politik durch tatarische Invasion, der Alptraum von Karl Marx. Der Alptraum hat sich im REAL EXISTIERENDEN SOZIALISMUS realisiert. Die aktuelle Wiederkehr des Gleichen: in der DDR hat die sowjetische Besetzung den Bürgerkrieg verhindert, der die Bedingung einer wirklichen Revolution gewesen wäre, bzw. durch bürokratischen Terror substituiert; hat die Bundesrepublik, aus dem natürlichen Interesse an der Erhaltung ihrer eigenen fragil konservativen Struktur, mit dem sanfteren ökonomischen Würgegriff der Marktwirtschaft die zweite mögliche Revolution im Keim erstickt.

Die Quittung für den gebremsten Klassenkampf ist der Umschlag in den Atavismus der Rassenkämpfe, die uns noch lange beschäftigen werden. Nach dem Ausflug in die Geschichte aus der Gier des Dramatikers auf Katastrophen, die vielleicht, wie die Psychoanalytiker behaupten, aus einem gestörten Verhältnis zum Leben kommt, aber wer könnte ungestört leben, die täglichen Katastrophen im Blick, außer ein Idiot oder ein Heiliger, wieder zurück zu dem sehr gestörten Kleist, für den die gebrechliche Einrichtung der Welt Bedingung seiner Existenz als Autor war und zuletzt der Grund, sich als Person auszulöschen. Seine Grundmetapher, im Spannungsfeld zwischen Europa und Asien, ist die Staubsäule, Figur der totalen Beschleunigung im Stillstand, Auge des Taifuns.

Eine europäische Grunderfahrung, im Osten durch die sowjetische Besetzung aufgefrischt, war der Mongolensturm, eine Erinnerung, die noch, über das Vertrauen in den senilen Hindenburg, als den großen Bremser der russischen Dampfwalze1 bei Tannenberg, Hitler als seinen erwählten Sohn in die Macht befördert hat. Auch die Definition des Meisters Eckhart GOTT IST DIE WÜSTE scheint inspiriert von detai Traum des Einbruchs der berittenen Steppe in die Welt der deutschen etablierten Manufaktur:

Gott ist das Andere, der Tod kommt aus Asien. Das Grab des Dschingis Khan ist unauffindbar: die Mongolen hatten die Gewohnheit, so lange über die Gräber ihrer Chefs zu reiten, bis die vom Erdboden nicht mehr unterscheidbar waren. Aus der Sicht des Stotterers Kleist: von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden zur allmählichen Verfertigung des Schweigens beim Reden. 1961 ist die Staubsäule Beton geworden, Korrektiv gegen den Wirbel der Kontinente. Nach ihrem Fall steht Europa im Freien, den vier Winden ausgesetzt. PENTHESILEA ist ein afri-kanisches Stück, über Hölderlins orientalische Sophokles-Interpretation hinaus, die Elefanten sind kein Ornament, es sind die Elefanten, die Hannibal gegen Rom über die Alpen führte. Ein Satz von Brecht über Hannibal:

IRGENDWIE INTERESSIERT ER SICH NICHT FÜR KARTHAGO. Der Umweg ist das Drama, das Orchester die Musik. Kleist, im Verhältnis zu Goethe, dem Europäer und Meister des Gleichgewichts, und Schiller, dem Deutschen, der ein versetzter Politiker war, steht zu allem zunächst einmal schief.

Schief zu seinen Stoffen: Schroffenstein eine Krudität nach Shakespeare, Käthchen eine Kolportage aus dem Mitteltalter, der Zerbrochene Krug ein Glücksfall, das Ergebnis einer Wette, Homburg ein Heeresbericht gegen den Strich gelesen. Das Problem, das bei dem einsamen Kleist manifest wird, heißt Deutschland, die Figur seiner Sehnsucht war Napoleon/Guiskard.

Shakespeare hatte die Rosenkriege, Goethe mußte Götz erfinden, Schiller Wallenstein. Vertreter partikularer Interessen zu nationalen Figuren aufgeblasen, weil es deutsche Geschichte nicht gab. Lessing, der glücklich-unglückliche Vorläufer, hatte, gegen den Widerstand der preußischen Provinz, wo der zweite Friedrich seine Kriege spielte, während Frankreich und England die Welt aufteilten, den Blick auf Europa. Leisewitz erzählt, daß Lessing ihm erzählt hat, er habe nie geträumt. So konnte er Deutschland aushalten, das immer nur ein Traum war, kein Ort, eine Flucht, keine Heimat, ein Jenseits, das sich immer wieder aus seinen Toten zu legitimieren versuchte, zuletzt ein Totenreich. Die verzweifelte Suche nach einem nationalen Stoff zieht sich durch die Geschichte der deutschen dramatischen Literatur. Beispiel HERMANNS-SCHLACHT: ein relativ folgenloser Grenzzwischenfall im römischen Imperium als nationaler Mythos, bei Kleist das Drama der Guerilla.

Er geht mit seinen Stoffen um wie ein Triebtäter mit einer Frau, in PENTHESILEA wechselt er die Rolle, das Geschlecht, im HOMBURG, der die Geschichte Friedrichs des Großen in einen Traum von Preußen umschreibt, kommt er zur Ruhe. Goethe mochte die Veränderungen nicht wünschen, die er zur Herausbildung einer deutschen Nationalliteratur für notwendig hielt. Kleist wäre neugierig gewesen auf das kommende Deutschland. Es wird nicht nur europäisch sein.



Heiner Müller. Jenseits der Nation. Rotbuch Verlag Berlin 1991, S.61-67.

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