Das Naturbild
Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt, dieses Thema ist so alt
wie Goethes Bemühungen um ein Verständnis der Natur, wie seine eigene
Naturwissenschaft; denn Goethe hat die Anfänge der
technisch-naturwissenschaftlichen Welt, die uns heute umgibt, noch selbst
miterlebt. Viel ist von ihm, von seinen Zeitgenossen, von Naturforschern und
Philosophen nach ihm über diese Problematik gesagt worden. Wir wissen längst,
eine wie wichtige Rolle diese Frage in Goethes Leben gespielt hat, und wir
wissen auch, was alles an unserer heutigen Welt in Frage gestellt wird, wenn
wir unsere technisch-naturwissenschaftlichen Errungenschaften an den
Forderungen Goethes messen. Es ist ferner oft darauf hingewiesen worden, wie
empfindlich Goethe auf die Kluft zwischen seiner Farbenlehre und der allgemein
anerkannten Optik Newtons reagiert hat, wie heftig und unsachlich seine Polemik
gegen Newton gelegentlich gewesen ist; und es ist auch bemerkt worden, dass
seine Kritik an der Romantik, seine so grundsätzlich ablehnende Haltung
gegenüber der romantischen Kunst, eine gewisse innere Beziehung zu seiner
Polemik gegen die herrschende Naturwissenschaft aufweist. Über all dies ist
schon so viel gesagt und geschrieben, die dahinterliegende Problematik ist von
vielen Seiten so gründlich beleuchtet worden, dass kaum etwas anderes zu tun
bleibt, als die oft ausgesprochenen Gedanken noch etwas weiter zu verfolgen und
von einer Kenntnis der heutigen technisch-naturwissenschaftlichen Welt,
insbesondere der neuesten Entwicklung der Naturwissenschaft her zu überprüfen.
Dies soll also in der Folge versucht werden. Dabei wollen wir uns nicht von
vornherein von der pessimistischen Auffassung leiten lassen, wie sie etwa bei
Karl Jaspers anklingt, dass Goethe, eben weil er sich vor der heraufkommenden
technischen Welt verschloss, weil er die Aufgabe, in dieser neuen Welt den Weg
des Menschen zu finden, nicht erkannte, uns heute an dieser Stelle nichts mehr
zu sagen habe. Vielmehr wollen wir die goetheschen Forderungen ruhig gelten
lassen, sie unserer heutigen Welt gegenüberstellen, gerade weil wir nicht so
viel Grund zum Pessimismus zu haben glauben. In den 150 Jahren, die verflossen
sind1, seit Goethe hier in Weimar über das
Urphänomen der Farbenentstehung nachdachte und dichtete, hat sich die Welt sehr
anders entwickelt, als Goethe es sich erhoffte. Aber sie ist doch, das muss den
allzu scharfen Kritikern unserer Zeit entgegengehalten werden, von dem Teufel,
mit dem Faust das gefährliche Bündnis geschlossen hatte, noch nicht endgültig
geholt worden. Sehen wir also die alte Kontroverse noch einmal mit unseren
heutigen Augen an.
Für Goethe begannen
alle Naturbetrachtungen und alles Naturverständnis mit dem unmittelbaren
sinnlichen Eindruck; also nicht mit einer durch Apparaturen ausgefilterten, der
Natur gewissermassen abgezwungenen Einzelerscheinung, sondern mit dem
unmittelbar unseren Sinnen offenen, freien Naturgeschehen. Greifen wir eine
beliebige Stelle aus dem Abschnitt »Physiologische Farben« der Goetheschen
Farbenlehre heraus. Der Abstieg vom beschneiten Brocken an einem Winterabend
gibt Anlass zu folgender Beobachtung: »Waren den Tag über bei dem gelblichen
Ton des Schnees schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so musste man
sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten
Teilen widerschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte
und ihre durch die stärkeren Dünste höchstgemässigten Strahlen die ganze mich
umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die
Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner
Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward
immer lebhafter. Man glaubte, sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles
hatte sich in die zwei lebhaften und so schön über einstimmenden Farben
gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in
eine graue Dämmerung und nach und nach in eine mond- und sternhelle Nacht
verlor.«
Aber Goethe blieb
bei der unmittelbaren Beobachtung nicht stehen. Er wusste sehr wohl, dass erst
mit dem Leitfaden eines zunächst nur vermuteten, dann aber im Erfolg zur
Gewissheit werdenden Zusammenhangs aus dem unmittelbaren Eindruck auch
Erkenntnis werden kann. Ich zitiere eine Stelle aus dem Vorwort zur
Farbenlehre: »Denn das blosse Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes
Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes
Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem
aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewusstsein, mit
Selbsterkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen,
mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die
Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat,
das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.«
»Die Abstraktion,
vor der wir uns fürchten.« An dieser Stelle ist nun schon genau bezeichnet, wo
Goethes Weg sich von dem der geltenden Naturwissenschaft trennen muss. Goethe
weiss, alle Erkenntnis bedarf der Bilder, der Verknüpfung, der sinngebenden
Strukturen. Ohne sie wäre Erkenntnis unmöglich. Aber der Weg zu diesen
Strukturen führt unweigerlich später in die Abstraktion. Das hatte Goethe schon
bei seinen Untersuchungen zur Morphologie der Pflanzen erlebt. In den so
verschiedenartigen Gestalten der Pflanzen, die er besonders auf seiner
italienischen Reise beobachtete, glaubte er bei eingehenderem Studium immer
deutlicher ein zugrundeliegendes, einheitliches Prinzip zu erkennen. Er sprach
von der »wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und
spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt«, und von hier gelangt er zur
Vorstellung eines Urphänomens, der Urpflanze. »Mit diesem Modell«, sagt Goethe,
»und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden,
die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und eine innere
Wahrheit und Notwendigkeit haben.« Hier steht Goethe an der Grenze der
Abstraktion, vor der er sich fürchtete. Goethe hat sich selbst versagt, diese
Grenze zu überschreiten. Er hat auch gewarnt und gemeint, die Physiker und die
Philosophen sollten es ebenso halten. »Wäre denn auch ein solches Urphänomen
gefunden, so bleibt immer noch das Übel, dass man es nicht als solches
anerkennen will, dass wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres
aufsuchen, da wir doch hier die Grenzen des Schauens eingestehen sollten. Der
Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit
bestehen.« Die Grenze zum Abstrakten soll also nicht überschritten werden.
Dort, wo die Grenze des Schauens erreicht ist, soll der Weg nicht fortgesetzt
werden, indem man das Schauen durch abstraktes Denken ersetzt. Goethe war
überzeugt, dass das Lösen von der sinnlich wirklichen Welt, das Betreten dieses
grenzenlosen Bereichs der Abstraktion, zu mehr Schlechtem als Gutem führen
müsse.
Aber die
Naturwissenschaft war schon seit Newton andere Wege gegangen. Sie hat die
Abstraktion von Anfang an nicht gefürchtet, und ihre Erfolge bei der Erklärung
des Planetensystems, bei der praktischen Anwendung der Mechanik, bei der
Konstruktion optischer Apparate und vielem anderen haben ihr scheinbar recht
gegeben, und sie haben schnell dazu geführt, dass die Warnungen Goethes
überhört wurden. Diese Naturwissenschaft hat sich als eigentlich von Newtons grossem
Werk, den »Philosophiae naturalis principia mathematica«, bis zum heutigen Tage
völlig geradlinig und folgerichtig entwickelt. Ihre Auswirkungen in der Technik
haben das Bild der Erde umgestaltet.
In dieser
landläufigen Naturwissenschaft wird die Abstraktion an zwei etwas verschiedenen
Stellen vollzogen. Die Aufgabe lautet ja, in der bunten Vielfalt der
Erscheinungen das Einfache zu erkennen. Das Bestreben der Physiker musste also
darauf gerichtet sein, aus der verwirrenden Kompliziertheit der Phänomene
einfache Vorgänge herauszuschälen. Aber was ist einfach? Seit Galilei und
Newton lautet die Antwort: Einfach ist ein Vorgang, dessen gesetzmässiger
Ablauf quantitativ, in allen Einzelheiten, mathematisch ohne Schwierigkeiten
dargestellt werden kann. Der einfache Vorgang ist also nicht jener, den uns die
Natur unmittelbar darbietet; sondern der Physiker muss durch manchmal recht
komplizierte Apparate das bunte Gemisch der Phänomene erst trennen, das
Wichtige von allem unnötigen Beiwerk reinigen, bis der eine »einfache« Vorgang
allein und deutlich hervortritt, so dass man eben von allen Nebenerscheinungen
absehen, das heisst, abstrahieren kann. Das ist die eine Form der Abstraktion,
und Goethe meint dazu, dass man damit eigentlich schon die Natur selbst vertrieben
habe. Er sagt: »Nur begegnen wir der kühnen Behauptung, das sei nun auch noch
Natur, wenigstens mit einem stillen Lächeln, einem leisen Kopfschütteln; kommt
es doch dem Architekten nicht in den Sinn, seine Paläste für Gebirgslagen und
Wälder auszugeben.« Die andere Form der Abstraktion besteht im Gebrauch der
Mathematik zu Darstellung der Phänomene. In der Mechanik Newtons hat sich zum
erstenmal gezeigt - und das war der Grund für ihren enormen Erfolg -, dass in
der mathematischen Beschreibung riesige Erfahrungsbereiche einheitlich
zusammengefasst und damit einfach verstanden werden können. Die Fallgesetze
Galileis, die Bewegungen des Mondes um die Erde, die der Planeten um die Sonne,
die Schwingungen eines Pendels, die Bahn eines geworfenen Steins, alle diese
Erscheinungen konnten aus der einen Grundannahme der Newtonschen Mechanik, aus
der Gleichung: Masse x Beschleunigung = Kraft, zusammen mit dem
Gravitationsgesetz, mathematisch hergeleitet werden. Die abbildende
mathematische Gleichung war also der abstrakte Schlüssel zum einheitlichen
Verständnis sehr weiter Naturbereiche; und gegen das Vertrauen in die öffnende
Kraft dieses Schlüssels hat Goethe vergeblich angekämpft. In einem Brief an
Zelter steht: »Und das ist eben das grösste Unheil der neueren Physik, das man
die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloss in dem, was
künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann,
dadurch beschränken und beweisen will. Ebenso ist es mit dem Berechnen. Es ist
vieles wahr, was sich nicht berechnen lässt, sowie sehr vieles, was sich nicht
bis zum entschiedenen Experiment bringen lässt.«
Hat Goethe die
ordnende Kraft, die Erkenntnisleistung der naturwissenschaftlichen Methode,
Experiment und Mathematik, wirklich nicht erkannt? Hat er den Gegner
unterschätzt, gegen den er in der Farbenlehre und an vielen anderen Stellen so
unermüdlich gekämpft hat? Oder hat er diese Kraft nicht erkennen wollen, weil
für ihn Werte auf dem Spiel standen, die er nicht zu opfern bereit war? Man
wird wohl antworten müssen, dass Goethe diesen abstrakten Weg zum einheitlichen
Verständnis nicht beschreiten wollte, weil er ihm zu gefährlich schien.
Die Gefahren, vor
denen Goethe sich hier fürchtete, hat er wohl nirgends genau bezeichnet. Aber
die berühmteste Gestalt aus Goethes Dichtung, sein Faust, lässt uns ahnen,
worum es sich handelt. Faust ist neben vielem anderen auch ein enttäuschter
Physiker. Er hat sich in seiner Studierstube mit Apparaten umgeben. Doch er
sagt: »Ihr Instrumente freilich spottet mein, mit Rad und Kämmen, Walz und
Bügel: Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein; zwar euer Bart ist kraus,
doch hebt ihr nicht die Riegel.« Die geheimnisvollen Zeichen, die er im Buch
des Nostradamus aufsucht, sind vielleicht den Chiffren der Mathematik irgendwie
verwandt. Und diese ganze Welt der Chiffren und der Instrumente, jener
unersättliche Drang nach immer weiterer, immer tieferer, immer abstrakterer
Erkenntnis veranlasst ihn, den Verzweifelnden, den Pakt mit dem Teufel zu
schliessen. Der Weg, der aus dem natürlichen Leben heraus in die abstrakte
Erkenntnis führt, kann also beim Teufel enden. Das war die Gefahr, die Goethes
Haltung der naturwissenschaftlichen-technischen Welt gegenüber bestimmte.
Goethe spürte die dämonischen Kräfte, die in dieser Entwicklung wirksam werden,
und er glaubte ihnen ausweichen zu sollen. Aber, so wird man vielleicht
antworten müssen, so leicht kann man dem Teufel nicht ausweichen.
Goethe selbst hat
schon früh Kompromisse schliessen müssen. Der wichtigste war wohl die
Zustimmung zum kopernikanischen Weltbild, dessen Überzeugungskraft auch er
nicht widerstehen konnte. Aber auch hier wusste Goethe, wieviel dabei geopfert
werden muss. Ich zitiere wieder aus der Farbenlehre: »Doch unter allen
Entdeckungen und Überzeugungen möchte nichts eine grössere Wirkung auf den
menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum war
die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf
das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein.
Vielleicht ist noch nie eine grössere Forderung an die Menschheit geschehen;
denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf, ein
zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das
Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein
Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle
Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu
einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Grossheit der
Gesinnung berechtigte und aufforderte.«
Diese Stelle wird
man auch allen jenen entgegenhalten müssen, die, um den von Goethe gefürchteten
Gefahren zu entgehen, selbst in unserer Zeit versuchen, die Richtigkeit, die
Verbindlichkeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft in Zweifel zu ziehen. Da
wird etwa darauf hingewiesen, dass auch diese Naturwissenschaft ihre Ansichten
im Laufe der Zeit ändere oder modifiziere, dass zum Beispiel die Newtonsche
Mechanik heute nicht mehr als richtig anerkannt werde und durch die
Relativitätstheorie und die Quantentheorie ersetzt worden sei, dass man also
allen Grund habe, den Ansprüchen dieser Naturwissenschaft gegenüber skeptisch
zu sein. Dieser Einwand beruht aber auf einem Missverständnis, wie man zum
Beispiel gerade an der Frage nach der Stellung der Erde im Planetensystem
erkennen kann. Es ist zwar richtig, dass die Einsteinsche Relativitätstheorie
die Möglichkeit offenlässt, die Erde als ruhend, die Sonne als um die Erde bewegt
anzusehen. Aber dadurch ändert sich gar nichts an der entscheidenden Behauptung
der Newtonschen Theorie, dass die Sonne mit ihrer starken Gravitationswirkung
die Bahn der Planeten bestimme. Dass man also das Planetensystem nur wirklich
verstehen könne, wenn man von der Sonne als Mittelpunkt, als Zentrum der
Gravitationskräfte ausgeht. Man kann, das sei hier besonders betont, den
Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft sicher nicht entgehen, wenn man ihre
Methodik zugibt; und ihre Methodik lautet: Beobachtung, die zum Experiment
verfeinert wird, und rationale Analyse, die in mathematischer Darstellung ihre
präzise Gestalt annimmt. Die Richtigkeit der Ergebnisse kann man nicht
ernstlich in Zweifel ziehen, wenn man Experiment und rationale Analyse zulässt.
Man kann ihr aber vielleicht die Wertfrage entgegenstellen: Ist die so
gewonnene Erkenntnis wertvoll?
Wenn man diese
Frage zunächst nicht im Goetheschen Sinne zu beantworten sucht, sondern, dem
Geist unserer Zeit entsprechend, auch ohne viel Skrupel das
Nützlichkeitsargument zulässt, so kann man hier auf die Errungenschaften der
modernen Wissenschaft und Technik hinweisen; auf die wirksame Beseitigung
mancherlei Mangels, auf die Linderung der Not des Kranken durch die moderne
Medizin, auf die Bequemlichkeit des Verkehrs und vieles andere. Sicher hätte
Goethe, der ja tätig im Leben stehen wollte, solchen Argumenten viel
Verständnis entgegengebracht. Gerade wenn man von der Situation des Menschen in
dieser Welt ausgeht, von den Schwierigkeiten, die ihn bedrängen, von den
Forderungen, die von anderen an ihn gestellt werden, so wird man die
Möglichkeit, hier praktisch und wirksam tätig zu werden, anderen helfen zu
können und die Lebensverhältnisse allgemein zu bessern, sehr hoch einschätzen.
Man braucht bei Goethe nur grosse Teile der Wanderjahre oder die letzten
Abschnitte des Faust nachzulesen, um zu erkennen, wie ernst der Dichter gerade
diese Seite unseres Problems genommen hat. Von den verschiedenen Aspekten der
technisch-naturwissenschaftlichen Welt war ihm der pragmatische sicher am
verständlichsten. Aber Goethe hat auch hier die Furcht nicht loswerden können,
dass der Teufel dabei seine Hand im Spiel habe. Im letzten Akt des Faust wird
der Erfolg, der Reichtum des tätigen Lebens, mit dem Mord an Philemon und
Baucis ins Absurde verkehrt. Aber auch dort, wo die Hand des Teufels nicht so
unmittelbar sichtbar wird, bleibt das Geschehen von seiner Wirksamkeit bedroht.
Goethe hat erkannt, dass die fortschreitende Umgestaltung der Welt durch die
Verbindung von Technik und Naturwissenschaft nicht aufzuhalten war. Er hat es
in den Wanderjahren mit Sorge ausgesprochen: »Das überhandnehmende
Maschinenwesen quält und ängstigt mich. Es wälzt sich heran wie ein Gewitter,
langsam, langsam. Aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und
treffen.« Goethe wusste also, was bevorstand, und er hat sich Gedanken darüber
gemacht, wie dieses Geschehen auf das Verhalten der Menschen zurückwirken
würde. Im Briefwechsel mit Zelter steht: »Reichtum und Schnelligkeit ist, was
die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahn, Schnellpost,
Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Kommunikation sind es, worauf
die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in
der Mittelmässigkeit zu verharren. Eigentlich ist es ein Jahrhundert für die
fähigen Köpfe, für leicht fassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen
Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie
gleich selbst nicht zum höchsten begabt sind.« Oder auch in den Wanderjahren:
»Es ist jetzt die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich
und andere in diesem Sinne wirkt.« Goethe hat also ein erhebliches Stück Weges
vorausschauen können, und er hat das, was bevorstand, mit grösster Sorge betrachtet.
Inzwischen sind
wieder fast anderthalb Jahrhunderte vergangen, und wir wissen, wohin dieser Weg
bis heute geführt hat. Düsenflugzeuge, elektronische Rechenmaschinen,
Mondraketen, Atombomben, das sind etwa die letzten Meilensteine, denen wir am Wegrand
begegnet sind. Die von der Newtonschen Naturwissenschaft bestimmte Welt, von
der Goethe hoffte, dass er ihr ausweichen könnte, ist also unsere Wirklichkeit
geworden, und es hilft uns gar nichts, daran zu denken, dass in ihr auch Fausts
Partner seine Hand im Spiele hat. Man muss es hinnehmen, so wie man es zu allen
Zeiten hingenommen hat. Dabei sind wir noch lange nicht am Ende dieses Weges
angelangt. Wahrscheinlich ist die Zeit nicht mehr fern, in der auch die
Biologie in diesen Entwicklungsprozess der Technik voll einbezogen wird2. Dass
sich dann die Gefahren vervielfachen, selbst gegenüber der Bedrohung durch die
Atomwaffen, ist schon gelegentlich ausgesprochen worden. Am schärfsten vielleicht
in jener mitleidlosen Karikatur einer zukünftigen Welt, die Huxley unter dem
Titel »Brave new world« , eine »herrliche, neue Welt« , gezeichnet hat. Die
Möglichkeit, Menschen für die ihnen zugewiesenen Zwecke zu züchten, das ganze
Leben auf der Erde rationell, das heisst durch das Streben nach Zweckmässigkeit
zu ordnen und damit allen Sinnes zu entleeren, ist hier mit schauerlicher
Konsequenz ad absurdum geführt worden. Aber man braucht gar nicht so weit zu
gehen, um zu erkennen, dass Zweckmässigkeit überhaupt kein Wert ist, sondern
die Wertfrage nur um eine Stelle verschiebt; nämlich zu der anderen Frage: ist
der Zweck wertvoll, dem die betreffenden Erkenntnisse und Möglichkeiten gemäss
sind, dem sie dienen sollen?
Die moderne Medizin
hat die grossen Seuchen auf der Erde weitgehend ausgerottet. Sie hat das Leben
vieler Kranker gerettet, unzähligen Menschen schreckliche Leiden erspart, aber
sie hat auch zu jener Bevölkerungsexplosion auf der Erde geführt, die dann,
wenn sie nicht in relativ naher Zukunft durch friedliche organisatorische
Massnahmen gebremst werden kann, in entsetzlichen Katastrophen enden muss. Wer
kann wissen, ob die moderne Medizin ihre Ziele überall richtig setzt?
Die moderne
Naturwissenschaft vermittelt Erkenntnisse, deren Richtigkeit im ganzen nicht
bezweifelt werden kann; und die aus ihr entspringende Technik gestattet, diese
Erkenntnisse zur Verwirklichung auch weitgesteckter Ziele einzusetzen. Aber ob
der so erreichte Fortschritt wertvoll sei, wird damit überhaupt nicht entschieden.
Das entscheidet
sich erst mit den Wertvorstellungen, von denen sich die Menschen beim Setzen
der Ziele leiten lassen. Diese Wertvorstellungen aber können nicht aus der
Wissenschaft selbst kommen; jedenfalls kommen sie einstweilen nicht daher. Der
entscheidende Einwand Goethes gegen die seit Newton angewandte Methodik der
Naturwissenschaft richtet sich also wohl gegen das Auseinanderfallen der
Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« in dieser Methodik. Wahrheit war für
Goethe vom Wertbegriff nicht zu trennen. Das »unum, bonum, verum«, das »Eine,
Gute, Wahre«, war für ihn wie für die alten Philosophen der einzig mögliche
Kompass, nach dem die Menschheit sich beim Suchen ihres Weges durch die
Jahrhunderte richten konnte. Eine Wissenschaft aber, die nur noch richtig ist,
in der sich die Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« getrennt haben, in der
also die göttliche Ordnung nicht mehr von selbst die Richtung bestimmt, ist zu
sehr gefährdet, sie ist, um wieder an Goethes Faust zu denken, dem Zugriff des
Teufels ausgesetzt. Daher wollte Goethe sie nicht akzeptieren. In einer
verdunkelten Welt, die vom Licht dieser Mitte, des unum, bonum, verum nicht
mehr erhellt wird, sind, wie Erich Heller es in diesem Zusammenhang einmal
ausgedrückt hat, die technischen Fortschritte kaum etwas anderes als
verzweifelte Versuche, die Hölle zu einem angenehmeren Aufenthaltsraum zu
machen. Das muss besonders jenen gegenüber betont werden, die glauben, mit der
Verbreitung der technisch-naturwissenschaftlichen Zivilisation auch auf die
entlegensten Gebiet der Erde alle wesentlichen Voraussetzungen für ein goldenes
Zeitalter schaffen zu können. So leicht kann man dem Teufel nicht entgehen.
Bevor wir untersuchen, ob Richtigkeit und
Wahrheit in der modernen Naturwissenschaft wirklich so vollständig getrennt
sind, wie es bisher den Anschein hat, müssen wir nun die Gegenfrage stellen:
Hat Goethe mit seiner Naturwissenschaft, mit seiner Art, die Natur anzusehen,
der in der Nachfolge Newtons entstandenen technisch-naturwissenschaftlichen
Welt etwas Wirksames entgegenzusetzen? Wir wissen, trotz der enormen Wirkung,
die Goethes Dichtung im 19. Jahrhundert ausgeübt hat, sind seine Gedanken zur
Naturwissenschaft nur einem verhältnismässig kleinen Kreis von Menschen bekannt
und fruchtbar geworden. Aber vielleicht enthalten sie einen Keim, der sich bei
sorgfältiger Pflege entwickeln kann, gerade wenn der etwas naive
Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts einer nüchternen Betrachtung gewichen
ist. Man wird hier noch einmal fragen müssen, was denn eigentlich das
Charakteristische dieser Goetheschen Naturbetrachtung sei, wodurch sich seine
Art, die Natur anzuschauen, von der Newtons und seiner Nachfolger unterschieden
habe. An dieser Stelle wird vor allem hervorgehoben, dass Goethes
Naturbetrachtung eben vom Menschen ausgehe, dass in ihr der Mensch und sein
unmittelbares Naturerlebnis den Mittelpunkt bilde, von dem aus sich die
Erscheinungen in eine sinnvolle Ordnung fügen. Eine solche Formulierung ist
zwar richtig, und sie macht den grossen Unterschied zwischen der Goetheschen
Naturbetrachtung und der Newtonschen besonders deutlich. Aber sie übersieht
doch einen ganz wesentlichen Punkt, dass nämlich nach Goethes Überzeugung dem
Menschen in der Natur die göttliche Ordnung sichtbar gegenübertritt. Nicht das
Naturerlebnis des einzelnen Menschen, sosehr es ihn als jungen Menschen erfüllt
hatte, war dem älteren Goethe wichtig, sondern die göttliche Ordnung, die in diesem
Erlebnis erkennbar wird. Es ist für Goethe nicht nur dichterische Metapher,
wenn etwa in dem Gedicht »Vermächtnis altpersischen Glaubens« der Gläubige
durch den Anblick der über dem Gebirge aufgehenden Sonne dazu bewegt wird,
»Gott auf seinem Thron zu erkennen, ihn den Herrn des Lebensquells zu nennen,
jenes hohen Anblicks wert zu handeln und in seinem Lichte fortzuwandeln.«
Diesem Inhalt des Naturerlebnisses muss sich, so glaubt Goethe, auch die
wissenschaftliche Methode anpassen, und so ist das Suchen nach dem Urphänomen
aufzufassen als das Forschen nach jenen der Erscheinung zugrunde liegenden, von
Gott gesetzten Strukturen, die nicht nur mit dem Verstande konstruiert, sondern
unmittelbar geschaut, erlebt, empfunden werden können. »Ein Urphänomen«,
erklärt Goethe, »ist nicht einem Grundsatz gleichzusetzen, aus dem sich
mannigfaltige Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine Grunderscheinung,
innerhalb derer das Mannigfaltige anzuschauen ist. Schauen, wissen, ahnen,
glauben und wie die Fühlhörner alle heissen, mit denen der Mensch ins Universum
tastet, müssen denn doch eigentlich zusammenwirken, wenn wir unseren wichtigen,
obgleich schweren Beruf erfüllen wollen.« Goethe empfindet sehr deutlich, dass
die Grundstrukturen von einer solchen Art sein müssen, dass nicht mehr
entschieden werden kann, ob sie der als objektiv gedachten Welt oder der
menschlichen Seele zugehören, da sie für beide die Voraussetzung bilden. So
hofft er, dass sie auch im »Schauen, Wissen, Ahnen, Glauben« wirksam werden.
Aber, so müssen wir fragen, woher wissen wir oder woher weiss Goethe, dass die
eigentlichen, die tiefsten Zusammenhänge so unmittelbar sichtbar werden können,
dass sie so offen zutage liegen? Mag es nicht sein, dass gerade das, was Goethe
als die göttliche Ordnung der Naturerscheinung empfindet, erst in der höheren
Abstraktionsstufe in voller Klarheit vor uns steht? Kann an dieser Stelle nicht
vielleicht die moderne Naturwissenschaft Antworten geben, die doch allen
Goetheschen Wertforderungen standhalten können?
Bevor wir dazu übergehen, solche
schwierigen Fragen zu erörtern, muss nun noch ein Wort zu Goethes Ablehnung der
Romantik gesagt werden. Goethe hat sich oft in Briefen, Aufsätzen, Gesprächen
mit der Romantik, die ja die Kunstrichtung seiner Zeit war, ausführlich
auseinandergesetzt. Immer wieder werden die gleichen Vorwürfe erhoben:
Subjektivismus, Schwärmerei, ein Ausschweifen ins Extreme, ins Unendliche,
krankhafte Sensibilität, Altertümelei, schwächliche Versenkung, schliesslich
Gefälligkeit und Unehrlichkeit. Goethes Abneigung gegen das scheinbar
Krankhafte in der Romantik, seine Vorahnung der möglichen Fehlentwicklung, war
so stark, dass er es nur selten hat über sich gewinnen können, ihre
künstlerische Leistung zu sehen oder gar anzuerkennen. Alle Kunst, die sich so
wie die Romantik aus der Welt entfernt, die nicht mehr die wirkliche Welt
auszusprechen sucht sondern erst ihre Spiegelung in der Seele des Künstlers,
schien ihm genauso unbefriedigend wie eine Wissenschaft, die nicht die freie
Natur, sondern die durch Apparaturen ausgesonderte, gewissermassen zubereitete
Einzelerscheinung zum Gegenstand nimmt. Die Romantik kann wohl, wenigstens zum
Teil, aufgefasst werden als die Reaktion auf eine Welt, die sich durch den
Rationalismus, Naturwissenschaft und Technik in eine nüchtern praktische
Vorbedingung des äusseren Lebens zu verwandeln anschickte, so dass sie für die
Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit, für ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre
Schmerzen, keinen rechten Raum mehr bot. Diese Persönlichkeit zog sich daher in
ihr Inneres zurück; und die Lösung von der unmittelbar wirklichen Welt, in der
unser Tun Folgen hat, denen wir uns stellen müssen, wurde zwar vielleicht als
Verlust empfunden; aber, so fürchtete Goethe, sie machte es doch auch leichter,
um nicht zu sagen bequemer, nun in eine Welt der Träume zu entfliehen, sich dem
Rausch der Leidenschaft hinzugeben, die Verantwortung für sich und andere
abzuwerfen und in der unendlichen Weite der Gefühle zu schwelgen. Diesen
Schritt von einer Kunst, die die Welt in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zu
gestalten sucht, zu einer künstlerischen Darstellung und Übersteigung der
Abgründe in der menschlichen Seele konnte Goethe ebenso wenig gutheissen wie
den Schritt in die Abstraktion, zu dem sich die Naturwissenschaft genötigt
gesehen hatte.
Die Verwandtschaft der Motive für Goethes
Ablehnung in beiden Fällen geht wohl noch etwas weiter. Wenn Goethe die
Abstraktion in der Naturwissenschaft fürchtete, wenn er vor ihrer
Grenzenlosigkeit zurückschreckte, so geschah es, weil er in ihr dämonische
Kräfte zu spüren glaubte, deren Bedrohung er sich nicht aussetzen wollte. Er
hatte sie in der Gestalt des Mephisto personifiziert. In der Romantik spürte er
Kräfte ähnlicher Art wirksam. Wieder die Grenzenlosigkeit, die Ablösung von der
wirklichen Welt, von ihren gesunden festen Maßstäben, die Gefahr der Entartung
ins Krankhafte. Ferner mag es bei Goethes Haltung eine Rolle gespielt haben,
dass ihm jeweils die höchste Kunstform dieser nächsten Stufe relativ fremd war.
Die Mathematik, die man hier als Kunstform der Abstraktion bezeichnen mag, hat
Goethe nie fesseln oder faszinieren können, obgleich er sie respektiert hat.
Von der Musik, die in der deutschen Romantik, wie mir scheint, die höchsten
künstlerischen Leistungen hervorgebracht hat, war Goethe wohl nie so ergriffen
wie etwa von Dichtung oder Malerei. Was Goethe über die Romantik gedacht hätte,
wenn ihn die Sprache, die etwa im C-Dur-Streichquintett von Schubert gesprochen
wird, wirklich hätte erreichen können, wissen wir nicht. Aber er hätte wohl
spüren müssen, dass die Kräfte, die er fürchtete und die in dieser Musik noch
viel stärker wirken, als in fast jedem anderen romantischen Kunstwerk, hier
nicht mehr von Mephisto kommen, nicht mehr seine Macht verkünden, sondern aus jener
lichten Mitte, aus der Luzifer zwar stammt, die ihn aber verworfen hatte. Es
ist also doch nicht so merkwürdig, dass auch hier, in der Beurteilung des
Wertes der Romantik, die Folgezeit nicht dem Rat des grössten deutschen
Dichters gefolgt ist, dass sich vielmehr die Kunst in hohem Masse den
Gegenständen und Aufgaben zugewandt hat, denen sich die Romantik zum ersten
Male gewidmet hatte. Die Geschichte der Musik, der Malerei, der Literatur des
19. Jahrhunderts zeigt, wie fruchtbar die Ansätze der Romantik geworden sind.
Freilich zeigt diese Geschichte auch, besonders wenn man sie in unser
Jahrhundert hinein verfolgt, wie berechtigt die Sorgen und Einwände Goethes
gewesen sind, genauso wie im Falle von Naturwissenschaft und Technik. Man wird
wohl gewisse oft beklagte Auflösungserscheinungen im Bereich der Kunst - ebenso
wie in der Technik etwa die Benutzung von Atomwaffen als die Folge des
Verlustes jener Mitte ansehen, um deren Erhaltung Goethe sein ganzes Leben
hindurch gerungen hat.
Aber kehren wir zu der Frage zurück, ob die
Erkenntnis, die Goethe in seiner Naturwissenschaft gesucht hat, nämlich die
Erkenntnis der letzten von ihm als göttlich empfundenen Gestaltungskräfte der
Natur, aus der zunächst nur »richtigen« modernen Naturwissenschaft so vollständig
verschwunden ist. »Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält,
schau alle Wirkungskraft und Samen und tu' nicht mehr in Worten kramen», so
hatte die Forderung gelautet. Auf dem Wege dorthin war Goethe in seinen
Naturbetrachtungen zum Urphänomen, in seiner Morphologie der Pflanzen zur
Urpflanze gekommen. Aber obwohl dieses Urphänomen nicht ein Grundsatz sein
soll, aus dem man die verschiedenartigen Phänomene herzuleiten hätte, sondern
eine Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfache anzuschauen ist, so hat
doch Schiller in jener ersten berühmten Begegnung in Jena, die im Jahre 1794
die Freundschaft mit Goethe begründete, dem Dichter klargemacht, dass sein
Urphänomen eigentlich nicht eine Erscheinung, sondern eine Idee sei; eine Idee
im Sinne der Philosophie Platos, wollen wir hinzufügen, und wir würden in
unserer Zeit, da das Wort »Idee« eine etwas zu subjektive Färbung erhalten hat,
vielleicht eher das Wort »Struktur« als »Idee« an diese stelle setzen. Die
Urpflanze ist die Urform, die Grundstruktur, das gestaltende Prinzip der
Pflanze, das man freilich nicht nur mit dem Verstand konstruieren, sondern
dessen man im Anschauen unmittelbar gewiss werden kann. Der Unterschied, auf
den Goethe hier so grossen Wert legt, zwischen dem unmittelbaren Anschauen und
der nur rationalen Ableitung entspricht wohl ziemlich genau dem Unterschied der
beiden Erkenntnisarten »Episteme« und »Dianoia« in der platonischen
Philosophie. Episteme ist eben dieses unmittelbare Gewisswerden, auf dem man
ruhen kann, hinter dem man nichts weiter zu suchen braucht. Dianoia ist das
Durchanalysierenkönnen, das Ergebnis des logischen Ableitens. Auch bei Plato
wird deutlich, dass nur die erste Art der Erkenntnis, die Episteme, die
Verbindung mit dem Eigentlichen, dem Wesentlichen, mit der Welt der Werte
vermittelt, während die Dianoia zwar Erkenntnis schafft, aber eben nur
wertfreie Erkenntnis. Was Schiller auf dem Heimweg vom gemeinsam gehörten
naturwissenschaftlichen Vortrag Goethe zu erklären suchte, war nun freilich
nicht platonische, sondern Kantsche Philosophie. Hier hat das Wort »Idee« eine
etwas andere, eine etwas mehr subjektive Bedeutung; und jedenfalls ist die Idee
eben von der Erscheinung scharf geschieden, so dass Schillers Behauptung, die
Urpflanze sei eine Idee, Goethe zutiefst beunruhigte. Er antwortete: »Das kann
mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit
den Augen sehe.« In der sich anschliessenden Diskussion, in der, wie Goethe
berichtete, viel gekämpft wurde, erwidert Schiller: «Wie kann jemals Erfahrung
gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte; denn darin besteht eben
das Eigentümliche der letzteren, dass ihr niemals eine Erfahrung kongruieren
könne.« Im Lichte der platonischen Philosophie aber handelt es sich bei dieser
Diskussion wohl nicht so sehr um einen Streit über das, was eine Idee sei,
sondern über das Erkenntnisorgan, mit dem sich uns die Idee erschliesst. Wenn
Goethe die Ideen mit den Augen sehen kann, so sind das eben andere Augen als
die, von denen heute gewöhnlich die Rede ist. Jedenfalls könnte man die Augen
an dieser Stelle nicht durch ein Mikroskop oder eine photographische Platte
ersetzen. Aber wie auch immer man in diesem Streit entscheiden mag die
Urpflanze ist also eine Idee, und sie bewährt sich als solche, indem man mit
ihr, mit dieser Grundstruktur als Schlüssel, wie Goethe sagt, Pflanzen ins
Unendliche erfinden kann. Man hat mit ihr also den Bau der Pflanze verstanden;
und »verstehen« heisst: auf ein einfaches, einheitliches Prinzip zurückführen.
Wie sieht das nun in der modernen Biologie
aus? Auch hier gibt es eine Grundstruktur, die nicht nur die Gestalt aller
Pflanzen, sondern aller Lebewesen überhaupt bestimmt. Es ist ein unsichtbar
kleines Objekt, ein Fadenmolekül, nämlich die berühmte Doppelkette der
Nukleinsäure, deren Struktur vor etwa 15 Jahren von Crick und Watson in den
Vereinigten Staaten von Amerika aufgeklärt worden ist und die das ganze Erbgut
der betreffenden Lebewesen trägt. Wir können auf Grund zahlreicher Erfahrungen
der modernen Biologie nicht mehr daran zweifeln, dass eben von diesem
Fadenmolekül die Struktur des Lebewesens bestimmt wird, dass von ihm
gewissermassen die ganze Gestaltungskraft ausgeht, die den Bau des Organismus
festlegt. Über Einzelheiten kann hier natürlich nicht gesprochen werden.
Hinsichtlich der Richtigkeit dieser Aussage gilt, was vorher schon von der
Richtigkeit naturwissenschaftlicher Aussagen im allgemeinen gesagt wurde. Die
Richtigkeit beruht auf der naturwissenschaftlichen Methodik, Beobachtung und
rationaler Analyse. Wenn die Anfangsstadien der Unsicherheit einer speziellen
wissenschaftlichen Entwicklung überwunden sind, so beruht die Richtigkeit auf
dem Zusammenwirken ausserordentlich vieler Einzeltatsachen, auf einem grossen
und komplizierten Gewebe von Erfahrungen, das der Aussage ihre unantastbare
Sicherheit gibt.
Kann nun die eben geschilderte
Grundstruktur, die Doppelkette der Nukleinsäure der Goetheschen Urpflanze
irgendwie verglichen werden? Die unsichtbare Kleinheit dieses Objekts scheint einen
solchen Vergleich zunächst auszuschliessen. Aber dass dieses Molekül im Rahmen
der Biologie die gleiche Funktion erfüllt, die Goethes Urpflanze in der Botanik
erfüllen sollte, wird sich doch schwer bestreiten lassen. Es handelt sich ja in
beiden Fällen um das Verständnis der gestaltenden, formgebenden Kräfte in der
belebten Natur, um ihre Zurückführung auf etwas Einfaches, allen lebendigen
Gestalten Gemeinsames. Das eben leistet das Urgebilde der heutigen
Molekularbiologie das noch etwas zu primitiv ist, um schon ein Urlebewesen
genannt zu werden. Es besitzt noch keineswegs alle Funktionen eines
vollständigen Lebewesens; aber das braucht uns vielleicht nicht daran zu
hindern, es doch so oder irgendwie ähnlich zu bezeichnen. Dieses Urgebilde hat
auch dies mit der Goetheschen Urpflanze gemeinsam, dass es nicht nur eine
Grundstruktur, eine Idee, eine Vorstellung, eine formgebende Kraft, sondern
auch ein Objekt, eine Erscheinung ist, wenn es gleich nicht mit unseren
gewöhnlich Augen gesehen, sondern nur indirekt erschlossen werden kann. Es kann
mit hochauflösenden Mikroskopen und mit dem Mittel der rationalen Analyse
erkannt werden, ist also durchaus wirklich und nicht etwa nur ein
Gedankengebilde. Insofern genügt es fast allen von Goethe an das Urphänomen gestellten
Forderungen. Ob wir es allerdings im Goetheschen Sinne »schauen, fühlen, ahnen«
können, in anderen Worten, ob es zum Gegenstand der »Episteme«, der reinen
Erkenntnis in der Formulierung Platos werden kann, das mag zweifelhaft
scheinen. Normalerweise wird das biologische Urgebilde jedenfalls nicht so
gesehen. Man könnte sich nur vorstellen, dass es vielleicht den Entdeckern zum
ersten Male so erschienen ist.
Wenn man also nach dem Verhältnis von
Richtigkeit und Wahrheit in modernen Naturwissenschaft fragt, so wird man zwar
auf ihrer pragmatischen Seite nur die völlige Trennung der beiden Begriffe
konstatieren müssen, man wird aber dort, wo es sich, wie einer Biologie, um das
Erkennen ganz grosser Zusammenhänge handelt, die in der Natur von Anfang an
vorhanden und nicht etwas von Menschen gemacht sind, eine gewisse Annäherung
feststellen können. Denn die ganz grossen Zusammenhänge werden in den
Grundstrukturen, in den so sich manifestierenden platonischen Ideen sichtbar,
und diese Ideen können, da sie von der dahinterliegenden Gesamtordnung Kunde
geben, vielleicht auch von anderen Bereichen der menschlichen Psyche als nur
von der Ratio aufgenommen werden, von Bereichen, die eben selbst wieder in
unmittelbarer Beziehung zu jener Gesamtordnung und damit auch zur Welt der
Werte stehen.
Das wird besonders deutlich, wenn man zu
den ganz allgemeinen Gesetzmässigkeiten übergeht, die auf die Gebiete Biologie,
Chemie, Physik übergreifen und die erst in den letzten Jahrzehnten im
Zusammenhang mit der Physik der Elementarteilchen erkennbar geworden sind. Hier
handelt es sich also um Grundstrukturen der Natur oder der Welt im ganzen, die
noch tiefer liegen als die der Biologie und die deshalb noch abstrakter, noch
weniger unseren Sinnen unmittelbar zugänglich sind als jene. Sie sind im
gleichen Mass aber auch noch einfacher, da sie nur noch das Allgemeine, gar
nicht mehr das Besondere darzustellen haben. Während das Urgebilde der Biologie
nicht nur den lebendigen Organismus an sich repräsentieren, sondern - durch die
verschiedenen möglichen Anordnungen einiger weniger chemischer Gruppen auf der
Kette - auch die unzähligen verschiedenen Organismen unterscheiden muss,
brauchen die Grundstrukturen der gesamten Natur nur noch die Existenz eben
dieser Natur darzustellen. In der modernen Physik wird dieser Gedanke in
folgender Weise verwirklicht: Es wird in mathematischer Sprache ein
grundlegendes Naturgesetz formuliert, eine »Weltformel«, wie es gelegentlich
genannt wurde, dem alle Naturerscheinungen genügen müssen, das also
gewissermassen nur die Möglichkeit, die Existenz der Natur symbolisiert. Die
einfachsten Lösungen dieser mathematischen Gleichung repräsentieren die
verschiedenen Elementarteilchen, die genau in demselben Sinne Grundformen der
Natur sind, wie Plato die regulären Körper der Mathematik, Würfel, Tetraeder
usw., als die Grundformen der Natur aufgefasst hat. Auch sie sind, um wieder zu
dem Streitgespräch zwischen Schiller und Goethe zurückzukehren, so wie Goethes
Urpflanze »Ideen«, auch wenn sie nicht mit gewöhnlichen Augen gesehen werden
können. Ob sie im Goetheschen Sinne angeschaut werden können, das hängt wohl
einfach davon ab, mit welchen Erkenntnisorganen wir der Natur gegenübertreten.
Dass diese Grundstrukturen unmittelbar mit der grossen Ordnung der Welt im
ganzen zusammenhängen, kann wohl kaum bestritten werden. Es bleibt aber uns
überlassen, ob wir nur den einen engen, rational fassbaren Ausschnitt aus
diesem grossen Zusammenhang ergreifen wollen.
Werfen wir noch einmal den Blick zurück auf
die historische Entwicklung. In der Naturwissenschaft, wie in der Kunst, ist
die Welt seit Goethe den Weg gegangen, vor dem Goethe gewarnt hat, den er für
zu gefährlich hielt. Die Kunst hat sich von der unmittelbaren Wirklichkeit ins
Innere der menschlichen Seele zurückgezogen, die Naturwissenschaft hat den
Schritt in die Abstraktion getan, hat die riesige Weite der modernen Technik
gewonnen.
Gleichzeitig sind die Gefahren so
bedrohlich geworden, wie Goethe es vorausgesehen hat. Wir denken etwa an die
Entseelung, die Entpersönlichung der Arbeit, an das Absurde der modernen Waffen
oder an die Flucht in den Wahn, der die Form einer politischen Bewegung
angenommen hat. Der Teufel ist ein mächtiger Herr. Aber der lichte Bereich, den
Goethe überall durch die Natur hindurch erkennen konnte, ist auch in der
modernen Naturwissenschaft sichtbar geworden, dort wo sie von der grossen
einheitlichen Ordnung der Welt Kunde gibt. Wir werden von Goethe auch heute
noch lernen können, dass wir nicht zugunsten des einen Organs, der rationalen
Analyse, alle andern verkümmern lassen dürfen; dass es vielmehr darauf ankommt,
mit allen Organen, die uns gegeben sind, die Wirklichkeit zu ergreifen und sich
darauf zu verlassen, dass diese Wirklichkeit dann auch das Wesentliche, das
»Eine, Gute, Wahre« spiegelt. Hoffen wir, dass dies der Zukunft besser gelingt,
als es unserer Zeit, als es meiner Generation gelungen ist.
Quelle: Jahrbuch
der Goethe-Gesellschaft: 29ter Band, 1967
Herausgeber:
Andreas B. Wachsmuth
Zusammenstellung
und Bearbeitung: Theodor Zezza